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Analyse zu Klimapolitik und Landwirtschaft: Real Zero Europe published on

Analyse zu Klimapolitik und Landwirtschaft: Real Zero Europe

Real-Null, Netto-Null und der Vorschlag der Europäischen Kommission, ein Regelwerk für die Zertifizierung von Maßnahmen zur Entfernung von Kohlendioxid zu schaffen

Um die fatalsten Auswirkungen der Klimakatastrophe zu vermeiden – der schlimmsten Menschenrechtskrise unserer Zeit –, müssen wir die Art und Weise, unsere Lebensmittel zu produzieren, unsere Ökosysteme zu bewirtschaften und unsere Wirtschaft anzutreiben, radikal ändern – auf eine gerechte und solidarische Weise. Um überhaupt eine Chance zu haben, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten und Ökosysteme und Gesellschaften vor den gravierendsten Klimakrisenfolgen zu schützen, braucht es dringend reale und erprobte, sozial und ökologisch gerechte Klimapolitik, die die Treibhausgasemissionen an ihrer Quelle reduzieren, und zwar auf Real-Null.

Stattdessen aber machen Regierungen und Unternehmen weiter wie bisher: Sie subventionieren, erschließen, fördern und verbrennen fossile Brennstoffe. Sie bauen die umweltschädliche industrielle Landwirtschaft im eigenen Land und im Ausland weiter aus. Und sie tun dies, indem sie gleichzeitig auf so genannte natürliche  oder naturbasierte Klimalösungen (Nature based Solutions) und technologische Entnahmen von Kohlendioxid (Carbon Dioxide Removal, CDR) setzen, um die Emissionen von heute irgendwann wieder aus der Atmosphäre zu entfernen. Sie verlassen sich ganz wesentlich auf unerprobte, risikohafte und teilweise unwissenschaftliche CDR-Ansätze, um rechnerisch in der Zukunft auf so genannte “Netto-Null” zu kommen.  

Europa hat eine enorme historische Verantwortung, die Emissionen schnell zu senken und eine Just Transition in den Ländern des Globalen Südens zu unterstützen. Stattdessen aber setzt die Europäische Kommission zunehmend auf CDR und freiwillige CO2-Märkte. Wie sie im Dezember 2021 in ihrer Mitteilung zu „Nachhaltigen Kohlenstoffkreisläufen“ darlegte, beabsichtigt die Kommission, ein Regelwerk und Verfahrensweisen auf EU-Ebene für eine Zertifizierung von CO2-Entnahmen („carbon removals“) vorzulegen.

Um die globale Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, sind jetzt reale, sofortige und gerechte Emissionsreduzierungen notwendig. Da die Emissionen kumulativ wirken, trägt jede einzelne Tonne der heutigen Emissionen zum zunehmenden Klimachaos bei, das wir rund um die Welt erleben: Hitzewellen, abschmelzende Gletscher, immer heftigere Wirbelstürme, Ernteverluste, Waldbrände, massive Überschwemmungen und viele andere verheerende Auswirkungen. Jede einzelne Tonne versprochener zukünftiger Kohlendioxid-Entnahme stellt Emissionen dar, die schon heute ganz real mehr Klimachaos bedeuten.

Wir wissen, wie Real-Null aussieht: ein gerechter und politisch gesteuerter Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen (Kohle, Gas und Öl); eine reale, faire, demokratische und nachhaltige Energiewende hin zu erneuerbarer Energie; Unterstützung für kleine Landwirt*innen und ein gerechter Übergang von Lebensmittel- und Agrosystemen hin zu Agrarökologie[1] für Ernährungssouveränität; eine naturnahe Waldwirtschaft sowie eine Neuausrichtung von Subventionen – weg von fossilen Brennstoffen hin zur Förderung der genannten Maßnahmen. Um Real-Null zu erreichen und die globale Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssen jetzt die Emissionen gestoppt und die globalen Ökosysteme geschützt und wiederhergestellt werden.

 

Der Vorschlag der Europäischen Kommission: Nachhaltige Kohlenstoffmärkte?

Die Europäische Kommission will dem Europäischen Parlament und dem Rat bis Ende 2022 einen EU-Rechtsrahmen für die Zertifizierung von Maßnahmen zur CO2-Entnahme und zu Verfahren für die Überwachung, Berichterstattung und Überprüfung dieser „carbon removals“ vorschlagen.

Dieser Vorschlag steht im Zusammenhang mit dem Europäischen Klimagesetz, in dem das Ziel formuliert wird, in der Europäischen Union bis 2050 „Klimaneutralität“, beziehungsweise „Netto-Treibhausgasemissionen von null“, zu erreichen. Zudem wird in dem Gesetz das Ziel festgelegt, die Netto-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken.

Im Rahmen ihrer Strategie zur Klimaneutralität wird in der Mitteilung der EU-Kommission vor allem die Kohlendioxid-Entnahme – also das „Netto“ – hervorgehoben, obwohl es dort gleichzeitig heißt, dass die derzeitige Nutzung fossiler Kohlenstoffe um mindestens 95 Prozent reduziert werden müsse, um bis 2050 klimaneutral zu sein oder Netto-Null zu erreichen. Diese Inkongruenz ist das Kernproblem des Kommissionsvorschlags: Der Kommissionsvorschlag und der angekündigte Legislativvorschlag verlagern den Fokus weg von der eigentlichen Aufgabe, aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen, und hin zu der Bindung von Kohlenstoff im Landsektor sowie der technologischen Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre. In seiner Mitteilung setzt die Kommission das „ambitionierte“ Ziel, bis 2030 jährlich 5 Mio. Tonnen aus der Atmosphäre zu entfernen und dauerhaft zu speichern. Auch in der geänderten EU-Verordnung zu Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) ist die Entnahme von Kohlendioxid vorgesehen; das Ziel lautet, bis 2030 im Landsektor jährlich 310 Mio. Tonnen CO2 zu binden.

In der Mitteilung werden drei Hauptelemente der EU-Strategie zur CO2-Entnahme genannt:

  • Anreize für eine „klimaeffiziente Landwirtschaft als Geschäftsmodell“ zu schaffen, wobei neben der Landwirtschaft auch Wälder in die Kategorie „klimaeffiziente Landwirtschaft“ eingeordnet werden;[2]
  • die Entwicklung und den Einsatz von industrieller CO2-Abscheidung, -Nutzung und -Speicherung (CCU und CCS) auszubauen sowie
  • einen Regulierungsrahmen für die Zertifizierung der CO2-Entnahme einzuführen als ersten Schritt, die freiwilligen Kohlenstoffmärkte zu nutzen, um für die industrielle CO2-Abscheidung sowie die „klimaeffiziente Landwirtschaft“ im Landsektor die nötige Finanzierung zu sichern und Anreize zu schaffen.

 

Der Regulierungsrahmen hat das Ziel, die europäischen Kohledioxid-Entnahmen kurzfristig in die globalen freiwilligen Kohlenstoffmärkte zu integrieren – und nach 2030 schließlich in die Compliance-Märkte. In der Mitteilung der Kommission heißt es, dass eine Zertifizierung zu einer „verstärkten Verbreitung“ von Kohlendioxid-Entnahme-Offsets auf den Kohlenstoffmärkten beitragen könne. Des Weiteren heißt es: „Mangelnde Standardisierung ist ein weiteres großes Hindernis für die Ausweitung des freiwilligen CO2-Marktes.“ Die EU-Kommission hofft, mit dem Regelwerk das Problem der mangelnden Standardisierung zu beheben, das in ihren Augen einem Ausbau der Kompensationsmärkte im Wege steht. Eine der Schlüsselmaßnahmen dabei ist die „Festlegung von EU-Überwachungs-, Berichterstattungs- und Überprüfungsstandards für THG-Emissionen und den Kohlendioxid-Abbau in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben sowie für abgeschiedenes fossiles, biogenes oder atmosphärisches Kohlendioxid, das jedes Jahr transportiert, verarbeitet, gespeichert und potenziell wieder in die Atmosphäre abgegeben wird.“[3]

 

CO2-Entnahmen und Netto-Null

Theoretisch bedeutet Netto-Null ein Gleichgewicht zwischen Emmissionen von Treibhausgasen aus Quellen und ihrem Abbau durch Senken. Das Pariser Klimaabkommen verpflichtet die Vertragsstaaten, dieses Gleichgewicht bis Mitte des Jahrhunderts zu erreichen, und zwar auf globaler Ebene und nicht auf Länder- oder Unternehmensbasis. Das Ziel lautet, „so bald wie möglich den weltweiten Scheitelpunkt der Emissionen von Treibhausgasen zu erreichen, wobei anerkannt wird, dass der zeitliche Rahmen für das Erreichen des Scheitelpunkts bei den Vertragsparteien, die Entwicklungsländer sind, größer sein wird, und danach rasche Reduktionen … herbeizuführen.“ (Pariser Klimaabkommen, Artikel 4)

„Netto-Null in 2050“ ist zum neuesten Klimaschutzversprechen von Regierungen und Unternehmen geworden, denn dieses Ziel klingt gut und liegt weit genug in der Zukunft, sodass es leicht über die Lippen geht. Je weniger jedoch heute in diese Richtung unternommen wird, desto stärker wird auf Kohlendioxid-Entnahmen in der Zukunft  gesetzt werden, um „Netto-Null“ auf dem Papier einzuhalten. Das CO2 in der Atmosphäre wirkt aber kumulativ, sodass es vor allem darauf ankommt, die Emissionen in der nahen Zukunft drastisch zu senken.

Bei den meisten dieser Netto-Null-Versprechen werden die fortgesetzten Emissionen damit gerechtfertigt, dass diese Emissionen „schwer einzudämmen“ („hard to abate“) seien, oft ohne dass genauer erklärt werden würde, inwiefern das schwer ist und welche Mengen an Emissionen noch zu erwarten sind. Stattdessen wird aber davon ausgegangen, dass die „klimaeffiziente Landwirtschaft“ oder die technologischen Kohlendioxid-Entnahme-Ansätze wie Bioenergie mit Kohlendioxid-Abscheidung und Speicherung (Bioenergy with Carbon Capture and Storage, BECCS) oder Abscheidung direkt aus der Luft und Speicherung (Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS) – machbar sowie überall und permanent möglich seien. Davon ist allerdings nichts bewiesen und erprobt – und doch beruht der Kommissionsvorschlag auf genau diesen Annahmen.

CDR in der Zukunft wird zu einem gefährlichen „temperature overshoot“, einem Überschreiten des 1,5-Grad-Limits, führen. Auf spekulative Kohlendioxid-Entnahmen zu setzen, statt die Emissionen sofort drastisch zu senken, verschlimmert nicht nur das derzeitige Klimachaos, sondern führt zu einem Überschreiten der 1,5 Grad Grenze („overshoot“). Der Weltklimarat (IPCC) warnt davor, auf solche Overshoot-Strategien zu setzen, da es mehr als unsicher ist, ob die globale Erwärmung mit Hilfe von Kohlendioxid-Entnahmen zum Ende des Jahrhunderts wieder auf 1,5 Grad reduziert werden kann. In der Zeit eines „temperature overshoots“ können Kipppunkte und Feedbacks im Klimasystem ausgelöst werden, die große Mengen zusätzlichen Kohlendioxids freisetzen. Auch sind viele Entnahme-Ansätze unbeständig – in aller Regel nicht so permanent, wie es Emissionen in der Atmosphäre sind.[4]

Naturbasierte Kohlendioxid-Entnahmen sind nicht dauerhaft. Die naturbasierte Kohlendioxid-Bindung ist grundsätzlich umkehrbar. Lebende Organismen sterben. Eine kurzzeitige Bindung in Bäumen und Böden kann weder Ausgleich noch Kompensation für die permanenten fossilen Emissionen sein, die Hunderttausende von Jahren in der Atmosphäre verbleiben. Die verheerenden Waldbrände diesen Sommer überall in Europa sind bedrückender und anschaulicher Beweis dafür, wie fragil die natürliche Kohlenstoff-Bindung sein kann.

Gegenüber den derzeitigen Emissionen sind die Menge und der Zeitrahmen naturbasierter Kohlendioxid-Entnahmen völlig unbedeutend. Aktuell ist die einzige tatsächlich zur Verfügung stehende Art der Kohlendioxid-Bindung die in natürlichen Ökosystemen. Aber: Die globalen Ökosysteme können nur eine begrenzte Menge davon aufnehmen – neuesten Berechnungen zufolge insgesamt weniger als 400 Gt. Kohlendioxid in den nächsten 75 Jahren. Das entspricht gerade einmal etwas über 5 Gt. pro Jahr – und selbst das ist in der realen Welt in Anbetracht der fortlaufenden Zerstörung und Degradierung von Ökosystemen eher unwahrscheinlich und kann die erforderliche Reduzierung nicht annähernd abdecken.[5] Zum Vergleich: Die globalen CO2-Emissionen belaufen sich weltweit auf etwa 40 Gt. jährlich und der gesamte Treibhausgasausstoß pro Jahr entspricht dem Äquivalent von 50 Gt CO2.

Zudem nehmen die natürlichen Ökosysteme CO2 nur relativ langsam auf – die Wirkung des heute entfernten Gases würde sich erst in zwei oder drei Jahrzehnten in verminderter Erwärmung widerspiegeln.[6]

Verfahrensweisen klimaeffizienter Landwirtschaft – auf Feldern und in Wäldern – werden nicht zu einem dauerhaften Abbau von Kohlendioxid in der Atmosphäre führen, sondern werden weiteren Landraub und damit einhergehende Verdrängungen von Kleinproduzent*innen zur Folge haben. Das Interesse von Investor*innen und Spekulant*innen auf den Kohlenstoff-Märkten treibt den Wert von Landflächen in die Höhe. Eine weitere Konzentration von Landbesitz bedroht die Existenzgrundlage von Kleinbäuer*innen und gefährdet agrarökologische Praktiken, mit denen die Emissionen in der Nahrungsmittelproduktion erheblich reduziert werden können.

Technologische Entnahme-Ansätze sind gegenwärtig noch nicht im großen Maßstab anwendbar und gehen mit enormen Kosten und Risiken einher. Zu den technologischen Entnahme-Ansätzen gehören BECCS und DACCS, die beide mit erheblichen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Risiken und Kosten verbunden sind.[7] Sollte eine oder beide Technologien eines Tages in einem großen Maßstab technisch möglich sein und eingesetzt werden, dann könnten sie aufgrund ihres immensen Energie- und Ressourcenverbrauchs die Klimakrise und dessen Folgen noch verschärfen. Beispielsweise sind für BECCS riesige Landflächen erforderlich, was die Landnahme und Zerstörung von Ökosytemen noch verstärken und die Klimafolgen weiter verschlimmern würde.

Kohlendioxid-Abscheidung und -Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) sowie Kohlendioxid-Abscheidung und -Nutzung (Carbon Capture and Usage, CCU) entfernen kein CO2 aus der Atmosphäre.[8] CCS und CCU sind Verfahren zur Abscheidung von Kohlendioxid aus emmissionsintensiven Verfahren – z.B. bei der Stromerzeugung durch fossile Brennstoffe. Das abgeschiedene Kohlendioxid soll dann in Produkten verwendet (CCU) oder unterirdisch gespeichert (CCS) werden.

Aber keine Investitionen in CCS oder CCU können den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen beschleunigen oder Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernen. Stattdessen dienen beide Verfahren dazu, die Emissionen aus der bestehenden fossilen Infrastruktur zu verschleiern und diese etwa als „CO2-neutral“ darzustellen. Die große Mehrheit der derzeitigen CCS-Projekte nutzen das Kohlendioxid für die sogenannte „Enhanced Oil Recovery“ (EOR), bzw. tertiäre Ölgewinnung, bei der das Kohlendioxid dafür genutzt wird, an schwer erreichbare fossile Rohstoffe heranzukommen. EOR ist aktuell das einzige wirtschaftlich rentable CCS-Verfahren – was zur Folge hat, dass die Ausbeutung der fossilen Rohstoffe und damit auch die Emissionen noch gesteigert werden. Zusätzliche Risiken, Auswirkungen und Kosten entstehen im Zusammenhang mit Transport und Speicherinfrastruktur, wie beispielsweise Pipelines. Und schließlich beinhaltet der CCU-Bestandteil „Nutzung“ sehr oft auch kurzlebige Nutzungen, bei denen das gesamte Kohlendioxid nach kurzer Zeit wieder in die Atmosphäre emittiert wird![9]

 

Real-Null erfordert reale Lösungen, um einen gefährlichen und möglicherweise unumkehrbaren Overshoot zu verhindern

Es ist technisch wie wirtschaftlich machbar, einen schnellen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen sofort anzugehen, um die Erderwärmung auf 1,5°Grad zu begrenzen, statt diese Grenze zu überschreiten und auf spekulative Technologien zu setzen, um die Temperaturen später wieder zu senken.

Statt Netto-Null und CO2-Märkte müssen wir schnell auf Real-Null kommen, und zwar mit einer Reihe erprobter und realer Lösungen – Lösungen, die umgehend sozial und ökologisch gerecht der Klimakrise entgegenwirken können.

Zu diesen Lösungen gehören der gerechte Ausstieg aus fossilen Energie, eine Transformation der Energiesysteme, eine naturnahe Forstwirtschaft, Unterstützung von Agrarökologie und Kleinbäuer*innen und eine für Bäuer*innen gerechte Umwandlung der extraktiven Agrarindustrie.

Indigene Bevölkerungsgruppen, lokale Gemeinschaften, Frauen und Jugendliche müssen eine zentrale Rolle bei diesen realen Lösungen innehaben.

Warum ein Regelwerk für die Zertifizierung von CO2-Entnahme abzulehnen ist

Die Europäische Kommission schlägt vor, ein Zertifizierungsverfahren für Kohlendioxid-Entnahmen einzuführen, um staatliche Anerkennung und Marktvertrauen für Ausgleichszahlungen für Kohlenstoff-Entnahmen (carbon removal offsets) zu schaffen, die in den freiwilligen Kohlenstoffmärkten und später in Compliance-Märkten verkauft werden. Dahinter steht die Idee, dass die vielen Unternehmen, die Ziele und Behauptungen hinsichtlich ihrer Klimaneutralität aufstellen, Gutschriften für Kohlendioxid-Entnahmen (carbon removal credits) kaufen, um ihre Emissionen auszugleichen.[10]

Aber ein staatliches Zertifikat wird keine Waldbrände verhindern können noch die enormen ökologischen und ökonomischen Kosten der technologischen CDR-Ansätzen. Wir haben bereits viel zu viel Kohlenidoxid ausgestoßen und zusätzliche Emissionen werden dazu führen, dass wir im Laufe des nächsten Jahrzehnts die 1,5-Grad-Grenze überschreiten.

Ein Offset-Markt für Kohlendioxid-Entnahmen ist eine Scheinlösung für fortgesetzte Emissionen. Es ist ein sicherer Weg in die Klimakatastrophe. Eine Zertifizierung für die Entnahmen von Kohlendioxid dient nur dazu, ohnehin schon problematische Kohlenstoffmärkte zu stärken, von denen umweltverschmutzende Industrien profitieren und die es überhaupt nicht geben dürfte.

Die vorgeschlagene Zertifizierung von Kohlendioxid-Entnahmen wird:

  • den Fortbestand der fossilen Industrie ermöglichen: Die Vorstellung, dass Kohlendioxid-Entnahmen (CDR) die fortgesetzten Emissionen ausgleichen könnte, ist falsch. CDR hält die fossile Industrie am Leben und verschärft die Klimakrise und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen. Ein solches Regelwerk soll öffentliche Unterstützung und Legitimität beschaffen für die realen Investitionen in eine Infrastruktur, mit der die fossile Industrie perpetuiert wird.
  • die globalen freiwilligen Kohlenstoff- und Compliance-Märkte legitimieren und antreiben: Die Europäische Union positioniert sich selbst aktiv als Instanz und Akteur*in, die Regeln auf globaler Ebene schafft. Systeme wie das EU-Emissionshandelssystem sind de facto zu globalen Normen geworden. Der Verzögerungseffekt durch den Handel mit CDR-Zertifikaten anstelle realer Emissionsreduktionen würde den globalen Anstrengungen gegen die Klimakrise erheblichen Schaden zufügen. Ebenso problematisch ist es, wenn eine kleine Gruppe von Ländern – die EU – versucht, internationale Standards ohne breitere Beteiligung zu setzen und dabei Gerechtigkeit und andere Kernprinzipien des globalen Prozesses unterminiert.
  • die industrielle Landwirtschaft stärken und damit die Wiederherstellung von Artenvielfalt und Ernährungssouveränität untergraben: Es hat sich wiederholt gezeigt, dass die CO2-Kompensation in Landwirtschaft, Waldschutz und Baumpflanzungen nicht zur tatsächlichen Reduktion von Emissionen führt. Ausgleichszahlungen für Kohlendioxid-Entnahmen über CO2-Märkte (carbon offsets) sind kein geeigneter Finanzierungsmechanismus für Bäuer*innen. Es besteht die große Sorge, dass eine „klimaeffiziente Landwirtschaft“ die Landkonzentration und die Konzernmacht weiter festigen sowie einem gerechten Übergang in der Landwirtschaft im Weg stehen könnte.[11][12] Wenn einseitig auf CO2 fokussiert wird, anstatt auch andere ökologische Krisen wie Biodiversitätsverlust und die Degradierung von Böden in den Blick zu nehmen, können so genannte naturbasierte Lösungen den Schutz von biodiversen Waldökosystemen unterminieren und  Verlust, Erosion und Zerstörung von biologischer Vielfalt sogar verschlimmern – und das in einer Zeit, in der die planetarischen Grenzen ohnehin schon überschritten sind.[13]
  • reale Klimaschutzmaßnahmen weiter verzögern: Die Aufmerksamkeitsverlagerung weg von der Emissionsreduktion an der Quelle hin zu CDR-Technologien und Ansätzen riskiert unermessliche Schäden für Menschen und Ökosysteme, da reale und gerechte Lösungen weiter hinausgezögert werden. Der Fokus auf zukünftige CDR-Technologien lenkt die politische Aufmerksamkeit und Ressourcen von den realen Maßnahmen ab, die sofort ausgebaut werden könnten.

 

Fazit

Kohlenstoffmärkte sind keine Lösung für die Klimakrise. Sich auf die Entnahme von Kohlendioxid (CDR) in der Zukunft zu verlassen, anstatt sofort Maßnahmen zur drastischen Emissionsreduktion zu ergreifen, ist ein sicherer Weg in die Klimakatastrophe. Es führt zu einer gefährlichen Überschreitung des 1,5-Grad-Limits, das ein Point of No Return sein könnte.

Ein Kommissionsvorschlag für eine Zertifizierung von Kohlendioxid-Entnahmen führt uns in die falsche Richtung. Die EU muss diesen CDR-Zertifizierungsvorschlag ablehnen und ihren Fokus auf Real-Null-Lösungen richten und ihre Anstrengungen in diese Richtung verdoppeln.


[1] Agrarökologie ist ein System der Nahrungsmittelproduktion, eine Lebensweise, eine Wissenschaft und eine Bewegung für den Wandel von Ernährungssystemen hin zu ökologischer, sozialer, wirtschaftlicher, ethnischer Gerechtigkeit sowie Gender- und Generationengerechtigkeit. Mehr zu Agrarökologie findet sich in der Nyéléni-Erklärung von 2015.

[2] In der Mitteilung wird „klimaeffiziente Landwirtschaft“ als Verfahren definiert, „die zu einer verstärkten Kohlenstoffbindung … führen, indem die CO2-Abscheidung verbessert und/oder die Freisetzung von CO2 in die Atmosphäre … verringert wird“ (S. 4). Diese Definition vermischt auf problematische Weise zwei sehr verschiedene Prozesse zur Abschwächung des Klimawandels – die Zunahme von Kohlenstoffflüssen in die Böden und Ökosysteme versus die Verhinderung des Verlusts von Kohlenstoffbeständen.

[3] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. 2021. Nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe. S. 26, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021DC0800&from=EN 

[4] IPCC Unsummarized: unmasking clear warnings on overshoot, techno-fixes, and the urgency of climate justice. https://www.ciel.org/reports/ipcc-wg3-briefing/, S. 29; Meyer, A. et al. 2022. Risks to biodiversity from temperature overshoot pathways. Philosophical Transactions of the Royal Society B 377: 20210394.

[5] Dooley et al. 2022. Carbon removals from nature restoration are no substitute for steep emission reductions. One Earth 5: 812-824.

[6] Dooley et al. 2022.

[7] IPCC. 2022. Working Group III contribution to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, insbesondere Kapitel 7 und 12.

[8] CCS und CCU werden manchmal in einer Abkürzung verbunden – CCUS. Der Einfachheit und Klarheit halber halten wir sie auseinander.

[9] Wie beispielsweise bei der Karbonisierung von Softdrinks und Bier oder der Nutzung für Treibstoffe und Tierfutter.

[10] Für Behauptungen dieser Art ist eine Klage gegen die KLM anhängig – vermutlich die erste Klage von vielen. Die Klageparteien argumentieren, dass Behauptungen dieser Art haltlos, irreführend und eine Verletzung des EU-Verbraucherrechts seien.

[12] Siehe: Lessons for the EU’s carbon farming plans, Ben Lilliston, IATP (Juni 2022)

[13] Siehe: Planetary Boundaries, The Stockholm Resilience Centre