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Das Gemeine an der Gemeinwohl-Debatte published on

Das Gemeine an der Gemeinwohl-Debatte

Ein Einwurf zur aktuellen Agrarpolitik-Debatte. Eine Vorab-Veröffentlichung aus unserer druckfrischen Zeitung!

Von Onno Poppinga und Katrin Hirte

In der aktuellen agrarpolitischen Debatte ist ein neuer Trend auffällig. Ob seitens von Wissenschaftler*innen, von Tierschutz- oder Naturschutzverbänden und auch der Agraropposition – alle reden und beschwören ein sogenanntes „Gemeinwohl“ als neues Ziel in der Agrarpolitik. Dieser Schulterschluss kommt ebenso positiv daher wie der vermeintliche inhaltliche Gemeinwohl-Konsens. Allerdings geht es dabei nicht nur um eine diskursive Übereinkunft im Politik-Alltag, sondern um die nächste Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und somit um konkrete Entscheidungen über die Zahlung der Agrargelder.

Wer kann schon etwas gegen Gemeinwohl haben? Und gegen für ein Gemeinwohl gezahlte Gelder? Was aber verbirgt sich konkret hinter der Gemeinwohl-Argumentation in Bezug auf die Mittelverteilung? Das sollte bei bäuerlichen Interessensvertreter*innen und nicht nur bei diesen eher die Alarmglocken schrillen lassen anstatt in den neuen Gemeinwohl-Kanon einfach miteinzustimmen; beziehungsweise – wenn schon – dann sollte man zumindest wissen, was man da mitsingt.

Die Absicht: Direktzahlungen streichen!

Dies kann man im Gutachten „Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Deutschlands (1) nachlesen. Und in diesem wird nicht weniger gefordert als der Abbau der 1992 eingeführten Direktbeihilfen der EU, welche die Agrarbetriebe seit dem bekommen. Zwar sind diese mit ihrer Flächenbindung ungerecht verteilt, was seitens der Agraropposition auch immer wieder kritisiert wurde. Aber nichtsdestotrotz sind sie unerlässlich. Seit 1992 machen sie ca. die Hälfte des Einkommens der Betriebe aus. Damals musste sich die EU dem politischen Druck beugen und senkte die Preise innerhalb der EU drastisch: Auf Weltmarktniveau und damit auf ca. die Hälfte.

Laut Gutachten jedoch, (auf das wir uns nachstehend mit den Seitenangaben beziehen), seien diese Mittel nur noch ein „historisches Artefakt“ (S. 38) und daher in den „nächsten zehn Jahren vollständig abzubauen“ (S. III).

Was soll mit den Mitteln passieren?

Geht es um eine „deutlich stärkere Priorisierung von Umwelt-, Klima- und Tierschutzzielen“ (S. 15), wie im Gutachten behauptet wird? Sollen damit also die Aufwendungen kompensiert werden, welche mit höheren Standards im Umwelt-, Klima- und Tierschutz einhergehen? Ja! Aber nur, wenn diese „oberhalb des ordnungsrechtlich festgelegten Niveaus“ liegen (S. 4), d.h., wie es lt. gesetzlicher und agrarpolitischer Regeln sowieso gefordert wird. Viele gesellschaftlich gewünschten Effekte wie Arbeitsplätze im ländlichen Raum oder die Gewährleistung der Flächenbewirtschaftung brauchten im Agrarbereich hingegen gar nicht entlohnt werden, denn sie würden als „Koppelprodukt der landwirtschaftlichen Produktion ohnehin anfallen.“ (S. 4)

Sollen mit den frei werdenden Geldern dann vielleicht eher Maßnahmen für eine gesündere Ernährung forciert werden? Laut Gutachten ist auch dies nur begrenzt vorgesehen, denn hier sollten „vor allem Maßnahmen im Bereich Lebensmittelsicherheit und -kennzeichnung und der verbraucherorientierten Ernährungspolitik eingesetzt werden“ (S. 60).

Dann geht es vielleicht eher um die Stärkung der niedrigen Einkommen eines großen Teils der Landwirte? Mitnichten. Für solch Anlass läge noch nicht einmal eine „solide statistische Informationsbasis vor“ (S. 10).

Sollen dann vielleicht die Landwirte als „Werkbänke unter freiem Himmel“, wie im Gutachten so verständnisvoll formuliert, in Zeiten zunehmend turbulenter Weltmarkpreise und Klimaveränderungen entlastet werden? Auch hier findet man im Gutachten nur eine Absage: Das „Preis- und Ertragsrisiko“ sei eine „unternehmerische Aufgabe“, heißt es dort klipp und klar (S. 44). Und ebenso deutlich wird formuliert, was man unter Klimaschutz versteht – marktkonforme Anpassung: Standorte „mit vermehrtem Auftreten von Extremwetterereignissen“, die „nicht mehr wettbewerbsfähig sind“, sind aufzugeben, denn: „Gegen solche Entwicklung ‚anzusubventionieren‘ ist wenig erfolgsversprechend.“ (S. 48)

Welches Gemeinwohl?

Was aber soll denn dann zukünftig als „Gemeinwohl“ honoriert werden? Als „begründete Fälle“ gelten laut Gutachten erstens die schon genannten Leistungen „oberhalb des ordnungsrechtlich festgelegten Niveaus“ (S. 4). Wie über solche „Standards“ bäuerliche Strukturen zerstört und agrarindustrielle gefördert werden, lässt sich hinlänglich an der Geschichte der Milchproduktion (2) und aktuell am Strukturbruch in der Sauenhaltung ablesen.

Zweitens sind laut Gutachten „gemeinwohlorientierte“ Zahlungen „Kompensationszahlungen, wenn ansonsten eine zu starke Verlagerung der landwirtschaftlichen Produktion in das Ausland zu erwarten wäre“ (S. 4). Im Klartext heißt das: Droht ein Unternehmen, seine Tierproduktion ins Ausland zu verlagern, gibt es Geld, damit es bleibt! Hier werden also die Mittel an bodenungebundene Anlagen fließen anstatt an Landwirte mit ihrer bodengebundenen Tierhaltung!

Wer diese Förderphilosophie zugunsten von Anlagen der Agrarindustrie statt Landwirten im Namen eines „Gemeinwohls“ nicht glaubt, lese schon auf den ersten Seiten die Zusammenfassung des Gutachtens, wo unmissverständlich aufgefordert wird, die „Kappung oder Degression der Direktzahlungen sowie die Förderung der ersten Hektare und von Junglandwirten innerhalb der EGFL zu beenden“ (S. III).

Doppelt gemein

Damit ist der Bezug auf das Gemeinwohl – im besagten Gutachten wird dies auf den dort 92 Seiten gleich 195 mal (!) heraufbeschworen – sogar doppelt gemein: Es suggeriert nicht nur fehlende moralische Integrität derer, die gegen solch eine „Gemeinwohl“-Politik argumentieren, sondern damit wird auch noch das neu verpackt, was schon seit Jahrzehnten von diesen Wissenschafter*innen rauf und runter gebetet wird und auch wieder in diesem Gutachten steht: Es ginge letztlich um „Wettbewerbsfähigkeit“ (S. 15).

„Tüchtige“ Landwirte scheinen laut Gutachten von selbst „wettbewerbsfähig“ zu sein und brauchen daher keine Direktzahlungen. Die Paradoxie ist unübersehbar: Einerseits behaupten die gleichen Autor*innen, über das Einkommen von Landwirten läge keine „solide statistische Informationsbasis vor“ (S. 10). Andererseits geben sie zu, dass die Direktzahlungen an die Landwirte eh nur teils bei diesen ankommen, da sie weitergereicht bzw. „übergewälzt“ (S. 57) werden.

Wohin diese gewälzt werden bzw. wer generell am und im Agrarbereich verdient, ist an den heute bestehenden Strukturen überdeutlich zu erkennen – ob preisdiktierende Molkereien, Agrochemie oder Einzelhandel. (3)

Anstatt nun Instrumente vorzuschlagen gegen diese „Überwälzungen“ des Geldes, das eigentlich für die Landwirte und die Landwirtschaft vorgesehen ist, aber in Wirklichkeit an Zulieferer, Verarbeitungsstrukturen und den Handel geht, ist das Gutachter-Resümee: Abbau der Zahlungen. Was aber bleibt dann übrig? Welche Strukturen genau produzieren dann noch?

Gemein für Konsument*innen

Selbst die Verbraucherinnen merken zunehmend, dass das, was ihnen aus diesen Strukturen von der Lebensmittelindustrie unausweichlich als „Lebens“-Mittel vorgesetzt wird, buchstäblich krank macht. Auch die Gutachterinnen verweisen hier auf die „alarmierende Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten“ (S. 56) sowie darauf, dass mittlerweile die Hälfte der EU-Bevölkerung übergewichtig ist (S.11).

Wer nun aber erwartet, dass hier eine zukünftige „Gemeinwohl“-Agrarpolitik greifen soll, sieht sich abermals enttäuscht, denn dazu heißt es, „bei primär die menschliche Ernährung betreffenden Zielen (z.B. Gesundheit)“ seien „vor allem ernährungspolitische Maßnahmen einzusetzen und bei primär agrarpolitischen Zielen agrarpolitische Maßnahmen.“ (S. 60)

Wie glaubwürdig ist aber solch eine „Arbeitsteilung“? Noch dazu, wo die Gutachter*innen selbst wissen: Es gehe „weniger darum, ob die von der Landwirtschaft produzierten Agrarprodukte ‚gesund‘ oder ‚ungesund‘ sind“ (S. 59). Sondern es gehe um die Produkte, die von der „nahrungsmittelverarbeitenden Industrie transformiert, substituiert und vermarktet werden“ (S. 57). Aber gleichzeitig sollen die Folgen daraus einer „Ernährungspolitik“ überantwortet werden?

Man drängt darauf, den Landwirtschaftsbetrieben die Direktzahlungen zu entziehen, mit denen diese alternative Produktlinien aufbauen könnten, so dass Verbraucher*innen überhaupt erst wieder zu „individuellen Ernährungsentscheidungen“ (S. 59) in der Lage wären! Wenn man weiß, dass die Ernährungsindustrie Jahrzehnte lang von den Direktzahlungen profitierten, warum ergreift man dann nicht geeignete Maßnahmen der Agrarpolitik, um die Landwirte vor diesen „Überwälzungen“ zu schützen, anstatt die negativen Ernährungsfolgen aus diesem System nun einer „Ernährungspolitik“ aufzubürden?

Soll dies der zukünftige Weg zu mehr „Gemeinwohl“ sein? Solch Argumentationen klingen nicht nach Gemeinwohl, sondern nach Konzernwohl …

Gemeines Gemeinwohl auch in Österreich

Am 13.05.2019 hatte einer der Autoren des Gutachtens, Prof. Peter Weingarten, auf Einladung von Elisabeth Köstinger die neue Strategie der Gemeinwohl-Argumentation auf der Auftaktveranstaltung zur Erstellung des österreichischen GAP-Strategieplanes vorgestellt – bezeichnenderweise im Raiffeisenforum der Konzernzentrale. Agrarpolitik bei Raiffeisen? In Österreich gehört das „Raiffeisen-Netzwerk … zu den wohl mächtigsten und einflussreichsten wirtschaftlichen Machtträgern in Österreich.“ (4) Welche Agrarpolitik hat man hier also zu erwarten?

Seit Jahrzehnten wird Wettbewerbsfähigkeit und in deren Namen immense Kostenverausgabung betrieben, und als Intensivproduktion bei gleichzeitiger Aufgabe von – angeblich – unrentablen kleineren Betrieben umgesetzt. Die Folgen dieser Politik: Umweltbelastungen, die durch die Intensivproduktion verursacht wurden, teils unzumutbare Verhältnisse in manchen Betrieben der Massentierhaltung und -verarbeitung (5), die Zerstörung der Landwirtschaft in den wenig industrialisierten Ländern, denen die Rohstoffe ausgepresst werden bei gleichzeitiger Verhinderung einer eigenen Wertschöpfung (6), und die Ernährungsfolgen für die Verbraucher*innen. All dies führt zur sinkenden Akzeptanz dieser industriellen Agrarpolitik. Unter der Vorgabe einer angeblichen „Gemeinwohl-Argumentation“ soll diese Agrarpolitik weiter fortgesetzt werden und gleichzeitig wird ein Umschwenken vorgegaukelt und dies ist das Gemeine an der sogenannten „Gemeinwohl“-Agrarpolitik.

Onno Poppinga, ehemaliger Professor für Landnutzung und Regionale Agrarpolitik, Universität Kassel, Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften.

Katrin Hirte, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ICAE, Universität Linz; habilitierte kürzlich zu „Die deutsche Agrarpolitik und Agrarökonomie“.

Erschienen in:
Dieser Artikel ist in der ÖBV-Zeitung “Wege für eine bäuerliche Zukunft” (BZ) Nr. 358, 3/2019 erschienen.
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Fußnoten:

(1) Zum Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft“ von April 2018 siehe in: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/Beiraete/Agrarpolitik/GAP-GrundsatzfragenEmpfehlungen.pdf?__blob=publicationFile.

(2) Fink-Kessler, Andrea (1991): Von der Bauernmilch zur Industriemilch. Zur Entwicklung und Funktion der Qualitätsnormen bei Milch. Dissertation, Gesamthochschule Kassel.

(3) Die auch im Gutachten vertretene Behauptung, die Direktzahlungen würden vor allem an Verpächter weitergereicht, lehnen wir aus mehreren Gründen ab: (1): Mindestens 40 % der Flächen betrifft dies gar nicht, da es keine Pachtflächen sind; (2) die Bodenpreisanstiege stehen in keinem Zusammenhang mit dem Datum 1992 und Folgeentwicklungen, sondern begannen erst ca. 2007 – siehe hier z. B.: https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn059926.pdf; (3) als Hauptursachen für steigende Boden- und Pachtpreise werden selbst in einschlägigen Fachpublika neben Viehdichte und Biogasanlagendichte insb. Finanzinvestitions- und Fremdkaufzunahmen genannt, aber Direktzahlungen noch nicht einmal erwähnt, siehe z. B. in: https://oega.boku.ac.at/fileadmin/user_upload/Tagung/2016/Band_26/20_24_Langenberg_Schasse_Theuvsen-JB_OEGA2016_FINAL.pdf.

(4) So 2013 in einem Beitrag auf Eurctiv:  https://www.euractiv.de/section/gesundheit-und-verbraucherschutz/news/ein-bienenstich-mit-folgen/207674/. Raiffeisen ist zudem in Österreich eng verbandelt mit der ÖVP, zudem das zweitgrößte Bankinstitut und hinzu kommen die zahlreichen Medienbeteiligungen, u.a. 25 % beim NEWS-Verlag. Ein Bericht über die Ergebnisse der Recherchen im „Schwarzbuch Raiffeisen“ auf news.at 2013 wurde in der gleichen Woche gelöscht https://www.kobuk.at/2013/06/news-beugt-sich-dem-machtfaktor-raiffeisen/, nachzulesen ist er nur noch auf  https://pastebin.com/iS3wULYD bzw. man informiert sich direkt in: Holzinger, Lutz; Staudinger, Clemens (2013): Schwarzbuch Raiffeisen. Wien: Mandelbaum Verlag;

(5) Zu den teils skandalösen Bedingungen im Schlachthofbereich siehe den Beitrag „Schlachtordnung“, https://www.zeit.de/2014/51/schlachthof-niedersachsen-fleischwirtschaft-ausbeutung-arbeiter , zur Intensivproduktion siehe den Beitrag „Verheizt für billige Milch – das Leiden der deutschen Turbokühe“, https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3N3ci5kZS8xNTg1MDEwNA/

(6) Zu den Auswirkungen in den wenig industrialisierten Ländern siehe z. B. die Reportagen „Der Wahnsinn mit dem Weizen“, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-der-wahnsinn-mit-dem-weizen-100.html, oder „Ein Mann pflückt gegen Europa – Wie Tomaten aus der EU afrikanische Bauern zu Flüchtlingen machen“, https://www.zeit.de/2015/51/afrika-eu-handelspolitik-subventionen-armut-flucht/komplettansicht.