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Ernährungssouveränität ist die einzige Lösung und der einzige zielführende Weg published on

Ernährungssouveränität ist die einzige Lösung und der einzige zielführende Weg

Statement von La Via Campesina zum Welternährungstag am 16. Oktober 2022

Unsere fragile Welt steht vor einer drohenden globalen Ernährungskrise. Die Auswirkungen von COVID-19 haben mehr Menschen in die Armut getrieben. Lockdowns hatten verheerende Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen von Familien und die Wirtschaft und unterbrachen die Lieferketten. Laut dem Globalen Bericht über Ernährungskrisen (GRFC 2022) ist das Ausmaß des Hungers weltweit nach wie vor so alarmierend hoch wie im Jahr 2021: Rund 193 Millionen Menschen in 53 Ländern sind akut von Ernährungsunsicherheit betroffen und benötigen dringend Hilfe. Dieser akute Hunger ist auf Konflikte, Klimaschocks, die dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-Pandemie und in jüngster Zeit auch auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen. Die Preise für Nahrungsmittel waren Anfang 2022 so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr und die Preise für Treibstoffe so hoch wie seit sieben Jahren nicht mehr. Bei der derzeitigen Nahrungsmittelkrise geht es um die Leistbarkeit von Nahrungsmitteln. Selbst dort, wo Nahrungsmittel verfügbar sind, sind sie für Millionen von Menschen unerschwinglich. Zugleich verschärfen steigende Preise die Probleme für diejenigen, die in normalen Zeiten schon kaum in der Lage sind, für Nahrungsmittel zu bezahlen.

Die aktuelle Nahrungsmittelkrise ist besonders, weil sie sich in einem schwierigeren globalen Kontext abspielt, als die Nahrungsmittel- und Treibstoffkrisen im Jahr 2008. Die Intensität und Häufigkeit von Klimaschocks hat sich im Vergleich zum ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mehr als verdoppelt. Etwa 1,7 Milliarden Menschen waren von klimabedingten Katastrophen betroffen, fast 90 Prozent von ihnen wurden in den letzten 10 Jahren zu Klimaflüchtlingen. Hunger, Unterernährung und Armut sind aufgrund von Kriegen, Konflikten und Naturkatastrophen noch schwieriger zu überwinden. Diese stören alle Aspekte eines Lebensmittelsystems, von der Ernte, der Verarbeitung und dem Transport von Lebensmitteln bis hin zu deren Verkauf, ihrer Verfügbarkeit und ihrem Konsum.

Doch bei der Beendigung des Hungers geht es nicht nur um das Angebot. Es werden heute genug Lebensmittel produziert, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Das Problem ist der Zugang zu und die Verfügbarkeit von nahrhaften Lebensmitteln, die durch zahlreiche Schwierigkeiten wie die COVID-19-Pandemie, Konflikte, Klimawandel, Ungleichheit, steigende Preise und internationale Spannungen zunehmend erschwert werden.

Während sich der Übergang vom Multilateralismus zum Multi-Stakeholder-Ansatz in den UN-Plattformen immer weiter vollzieht, haben die Konzerne immer mehr die Kontrolle über das Narrativ für den Wandel übernommen. Auch die Macht der Konzerne in den Lebensmittel- und Landwirtschaftssystemen hat weiter zugenommen, und die Finanzialisierung verwandelt Lebensmittel und Land in Spekulationsobjekte. Der jüngste Prozess rund um die UN-Food System Summit (UNFSS-Prozess) ist ein deutliches Beispiel für diese Tendenz. Das Versagen der neoliberalen Politiken und der industriellen Landwirtschaft (einschließlich GVOs) bei der Steigerung von Erträgen und Gewinnen führte zu einer Konzentration der Unternehmensmacht in Händen von wenigen transnationalen Konzernen (TNCs), die Big Data, Agrarland, die Ressourcen in den Meeren, Saatgut und Agro-Chemikalien kontrollieren und darauf abzielen, unsere Lebensmittelsysteme zunehmend zu dominieren und sich die 80 % der in Familienlandwirtschaft erzeugten Lebensmittel anzueignen. Die Finanzialisierung führte zu einer beispiellosen Marktkonzentration und ist mit der Agenda verbunden, über neue Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) und (Bio-)Technologien die Grenzen des Kapitalismus so zu erweitern, dass damit die gesamte biologische Vielfalt der Welt übernommen werden kann.

Weltweit ist ein Trend zu beobachten, dass der Raum für die Zivilgesellschaft schrumpft und der Rückhalt für die Verteidigung der Menschenrechte abnimmt. Die Aktivist:innen auf lokaler Ebene sind mehr und mehr durch Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Kriminalisierung bedroht. Die physische Gewalt der staatlich geförderten Unterdrückung durch Sicherheits- und Militärkräfte zielt auf Einzelpersonen und die widerständigen Massen friedlicher Demonstrant:innen auf der ganzen Welt. Auf der anderen Seite wird der Vorrang und die Legitimität des öffentlichen Sektors zunehmend durch die Vereinnahmung politischer Prozesse durch Konzerne und durch ein Entwicklungsnarrativ bedroht, das den Investitionen des Privatsektors eine führende Rolle zuweist, während der Multilateralismus durch einen sich stark ausbreitenden populistischen Nationalismus und einen von Unternehmen geförderten Multi-Stakeholderismus angegriffen wird.

In den letzten drei Jahrzehnten ist ein zunehmend robustes, diversifiziertes und mit einer gemeinsamen Stimme sprechendes Netzwerk von Kleinbauern und -bäuerinnen, Arbeiter:innen und anderen sozialen Akteur:innen entstanden, die vom konzerngesteuerten globalisierten Lebensmittelsystem benachteiligt werden und die sich für eine radikale Umgestaltung der Lebensmittel- und Agrarsysteme auf der Grundlage der Ernährungssouveränität einsetzen. Diese Bewegungen setzen sich entschlossen für die Verteidigung und den Aufbau ökologisch und sozial nachhaltiger und territorial eingebetteter Lebensmittelversorgungssysteme ein. Diese Systeme werden oft als “alternativ” bezeichnet, obwohl sie für bis zu 70 % der weltweit konsumierten Lebensmittel verantwortlich sind. Ein Umdenken in der Agrarpolitik als eine Frage der wirtschaftlichen und nationalen Sicherheit muss Priorität haben.

Die Bewegung für Ernährungssouveränität ist seit den 1990er Jahren ein sehr dynamischer Teil, worüber die Notwendigkeit der Transformation und neuer Lösungen zur Sprache gebracht werden: Durch das richtungsweisende Nyéléni-Forum für Ernährungssouveränität im Jahr 2007 und durch das Agrarökologie-Forum im Jahr 2015. 25 Jahre nach der Schaffung des Konzepts der Ernährungssouveränität erheben unsere Bewegungen erneut ihre Stimmen, um einen Systemwandel zu fordern und den Weg für eine Zukunft der Hoffnung zu öffnen.

Wir fordern, dass jetzt sofort gehandelt wird:

  • Für ein Ende der Spekulation mit Lebensmitteln und die Aussetzung des Handels mit Lebensmitteln an den Börsen. Die Preise für international gehandelte Lebensmittel sollten an die Produktionskosten gekoppelt sein und den Grundsätzen des fairen Handels folgen, sowohl für die Erzeuger:innen als auch für die Verbraucher:innen;
  • Für ein Ende der Kontrolle des Lebensmittelhandels durch die WTO und für die Herausnahme der Lebensmittelproduktion aus den Handelsabkommen. Die Länder sollten öffentliche Lebensmittelvorräte anlegen und den Markt und die Preise regulieren, damit sie die kleinen Lebensmittelproduzent:innen in diesem schwierigen Umfeld unterstützen können;
  • Für die Schaffung eines neuen internationalen Gremiums, das transparente Verhandlungen über Rohstoffabkommen zwischen Export- und Importländern führt. Darüber sollen Länder, die von Nahrungsmittelimporten abhängig geworden sind, Zugang zu Nahrungsmitteln zu erschwinglichen Preisen erhalten;
  • Für ein Verbot der Verwendung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen zur Produktion von Agrotreibstoffen oder Energie. Lebensmittel sollen absoluten Vorrang vor Kraftstoffen haben
  • Einführung eines weltweiten Moratoriums für die Bezahlung staatlichen Schulden durch die schwächsten Länder. Diese Länder wegen der Rückzahlung der Schulden unter Druck zu setzen, ist höchst unverantwortlich und führt zu sozialen, wirtschaftlichen und Nahrungsmittelkrisen.

Wir fordern einen radikalen Wandel in der internationalen, regionalen und nationalen Politik zur Aufbau der Ernährungssouveränität durch:

  • Eine radikale Umgestaltung der internationalen Handelsordnung. Die WTO sollte abgebaut werden. Ein neuer globaler Rahmen für Handel und Landwirtschaft, der auf Ernährungssouveränität beruht, sollte den Weg für die Stärkung der lokalen und nationalen bäuerlichen Landwirtschaft ebnen, um eine stabile und verlässliche Grundlage für eine wieder lokalisierte Nahrungsmittelproduktion, die Unterstützung lokaler und nationaler bäuerlicher Märkte sowie ein faires internationales Handelssystem auf der Grundlage von Zusammenarbeit und Solidarität zu gewährleisten;
  • Die Umsetzung einer umfassenden Agrarreform für die Menschen, um die Aneignung von Wasser, Saatgut und Land durch transnationale Konzerne zu stoppen und Kleinbauern und -bäuerinnen faire Rechte an den produktiven Ressourcen zu sichern. Wir protestieren gegen die Privatisierung und Aneignung von Territorien und Gemeingütern durch Konzerninteressen unter dem Vorwand des Naturschutzes, durch Kohlenstoffmärkte oder andere Programme für Biodiversitäts-Offsetting, ohne auf die Menschen, die in diesen Territorien leben und die sich seit Generationen um die Gemeingüter kümmern, Rücksicht zu nehmen;
  • Ein radikaler Wandel hin zur Agrarökologie, um gesunde Lebensmittel für die Welt zu produzieren. Wir müssen uns der Herausforderung stellen, genügend hochwertige Lebensmittel zu produzieren und gleichzeitig die biologische Vielfalt wiederzubeleben, sowie die Treibhausgasemissionen drastisch zu reduzieren.
  • Eine effektive Regulierung des Marktes für Betriebsmittel (wie Kredite, Düngemittel, Pestizide, Saatgut, Treibstoff), um die Möglichkeiten der Bauern und Bäuerinnen zu unterstützen, Nahrungsmittel zu produzieren und zugleich auch, um einen gerechten und gut geplanten Übergang zu mehr agrarökologischer Bewirtschaftung zu ermöglichen;
  • Eine Lebensmittelpolitik, die sich auf die Menschen und nicht auf die Konzerne stützt. Die Vereinnahmung der Lebensmittelpolitik durch transnationale Konzerne muss gestoppt und die Interessen der Menschen sollen in den Mittelpunkt gestellt werden. Kleinbauern und -bäuerinnen sollte in allen Gremien, die sich mit der Lebensmittelpolitik befassen, eine wichtige Rolle zukommen;
  • Die Transformation der UN-Deklaration über die Rechte der Bauern und Bäuerinnen und aller Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten (UNDROP) in ein rechtsverbindliches Instrument zum Schutz der Landbevölkerung.
  • Die Entwicklung öffentlicher Infrastrukturen zur Vorratshaltung in jedem Land. Die Strategie der Lebensmittelbevorratung sollte sowohl auf nationaler Ebene als auch durch die Schaffung und öffentliche Unterstützung von Lebensmittelreserven auf kommunaler Ebene verfolgt werden, wobei die lokal erzeugten Lebensmittel aus agrarökologischer Bewirtschaftung stammen sollen;
  • Ein globales Moratorium für gefährliche Technologien, die die Menschheit bedrohen, wie z.B. Geoengineering, GVOs oder Zellfleisch.
  • Die Förderung kostengünstiger Techniken, die die bäuerliche Autonomie stärken und die Förderung von bäuerlichem Saatgut;
  • Die Entwicklung einer öffentlichen Politik, die neue Beziehungen zwischen den Erzeuger:innen und den Verbraucher:innen von Lebensmitteln und den Menschen in ländlichen und städtischen Gebieten sicherstellt und faire, an den Produktionskosten orientierte Preise garantiert, die ein angemessenes Einkommen für alle Erzeuger:innen am Land und einen fairen Zugang zu gesunden Lebensmitteln für die Konsument:innen ermöglichen;
  • Die Förderung neuer Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf der Grundlage von Gleichheit und Respekt, sowohl für die Menschen auf dem Land, als auch für die Arbeiter:innenklasse in den Städten. Die Gewalt gegen Frauen muss jetzt aufhören.

25 Jahre Ernährungssouveränität