In einer berühmten Äußerung sagte General Charles de Gaulle 1962: „Wie kann man ein Land regieren, in dem es 246 Käsesorten gibt?“. Der erste Präsident der Fünften Französischen Republik wies damit auf einen Widerspruch zwischen der einheitlichen Vision der Nation und der nicht reduzierbaren Vielfalt der lokalen Kulturen hin: Die Erzeuger*innen antworteten ihm mit tatsächlich mehr als tausend lokalen Käsesorten!
Von Bruno Ciccaglione
Aus der Zeitschrift „Bäuerliche Zukunft“ Nr. 384 zum Schwerpunkt „Kultur“
Das waren andere Zeiten, könnte man sagen: Der Nationalismus wurde von allen als die Kultur wahrgenommen, die die Katastrophe der beiden Weltkriege hervorgebracht hatte. Heute jedoch, nach dreißig Jahren wirtschaftlicher Globalisierung und einer Wirtschafts- und Agrarpolitik, die systematisch die großen Agrarkonzerne begünstigt hat, scheint der zeitgenössische Nationalismus den Widerspruch zu lokalen Realitäten gelöst zu haben. Die Idee einer nationalen Landwirtschaft (und Gastronomie) manifestiert sich im Schutz und in der Bewahrung einer unermesslichen Vielfalt an lokalen Produkten, um sie auf dem Weltmarkt in einer seltsamen Mischung aus Protektionismus und Liberalismus wettbewerbsfähig zu machen. Ein Modell, das jedoch nur eine weitere Möglichkeit zu sein scheint, die Agrarpolitik und jene Produktions- und Konsummodelle zu fördern, die weiterhin die großen Agrarkonzerne zum Nachteil der Kleinerzeuger*innen und der Umwelt begünstigen.
Der italienische Fall
In diesem Sinne ist der italienische Fall sehr aussagekräftig, so sehr, dass in den letzten Jahren viele ausdrücklich von „Gastro-Nationalismus“ sprechen. Damit soll die Überzeugung ausgedrückt werden, dass italienische Produkte die besten der Welt seien und dass natürlich die italienische Küche die beste der Welt sei, mit Ursprüngen, die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurückreichen. Seit einigen Jahren kritisieren Lebensmittelhistoriker*innen diese Selbstverherrlichung, um der oft frei erfundenen Erzählung von legendären und jahrhundertealten Ursprüngen den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Seit den Lehren von Marc Bloch, dem französischen Historiker, der 1944 von der Gestapo als Partisan erschossen wurde, befassen sich Historiker*innen nicht mehr nur mit der Geschichte, die von den großen Machthabern, Staatsoberhäuptern und den großen und berühmten Persönlichkeiten der Geschichte gemacht wurde, sondern auch mit dem, was im Alltag der einfachen Menschen in jeder untersuchten Gesellschaft geschah. Bloch hat mit seiner Anwendung dieser historischen Forschungsmethode auf bisher vernachlässigte Aspekte wie die Geschichte der Ernährungssysteme den nachfolgenden Generationen von Historiker*innen einen Blickwinkel geboten, der dabei hilft, viele Missverständnisse auszuräumen.
Eichel und Eiche
Berühmt ist Blochs Beispiel von Eichel und Eiche, das er gegeben hat, um zu verstehen, wozu die Kenntnis der Geschichte dient. Ohne die Eichel kann keine Eiche geboren werden, aber die Eichel allein bringt nicht unbedingt eine Eiche hervor. Damit aus einer Eichel tatsächlich eine Eiche wird, muss sie auf eine ganze Reihe anderer Elemente „treffen“: geeigneter Boden, klimatische Bedingungen, die das Wachstum der Pflanze begünstigen, das Ausbleiben „extremer“ Ereignisse (natürlichen Ursprungs oder durch andere Lebewesen, Tiere oder Menschen verursacht), usw. Die Eiche, so Bloch, existiert nur dank der „Geschichte“, die diese Eichel erlebt hat, und diese Geschichte besteht aus Begegnungen, aus Beziehungen mit ihrer Umgebung: Nicht die Ursprünge erklären, was eine Eiche ist, nicht sie erklären ihre Identität, sondern es ist die Geschichte der Begegnungen und Beziehungen, die bestimmen, was eine Eiche ist und wie sie ist.
Auf der Grundlage dieses Ansatzes wollte beispielsweise Massimo Montanari, einer der bekanntesten italienischen Lebensmittelhistoriker, die Geschichte eines der ikonografischsten Gerichte der italienischen Küche, der Spaghetti al pomodoro, erzählen. Wollte man das identitätsstiftendste dieser italienischen Gerichte durch eine Mythologisierung seiner Ursprünge erklären, müsste man eine völlig falsche Tradition erfinden. Tatsächlich stammt fast keine der Zutaten, die für Spaghetti al pomodoro benötigt werden, aus Italien: Die historische Forschung zeigt, dass Spaghetti um das neunte Jahrhundert n. Chr. von den Arabern aus dem Nahen Osten nach Sizilien gebracht wurden; Tomaten kommen ab dem sechzehnten Jahrhundert aus Mittelamerika, aber bevor sie mit Spaghetti kombiniert werden, muss man bis ins neunzehnte Jahrhundert warten; Knoblauch und Basilikum kommen aus dem Nahen Osten; Olivenöl kommt aus Griechenland, aber auch diese Zutat wird erst im 20. Jahrhundert typisch für die Zubereitung von Spaghetti al pomodoro; die einzige Zutat, die italienischen Ursprungs ist, ist Käse, aber auch hier ist es nicht möglich, eine einzige Sorte zu identifizieren (zur Vereinfachung: Käsesorten wie Parmesan im Norden und Pecorino im Süden).
Mit anderen Worten: Die italienische Identität, die sich in einem ikonischen Gericht verkörpert, erklärt sich nicht aus seinen Ursprüngen, so mythisch sie auch sein mögen, sondern aus der Geschichte. Es ist die Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Völkern, Kulturen und Bräuchen, die im Laufe der Jahrhunderte stattfinden und eine Identität bilden.
Weiterentwicklung und Austausch
Wenn Historiker*innen untersuchen, wie sich die Art und Weise, wie Lebensmittel produziert werden und wie die Menschen essen, verändert hat, wie sich die Lebensmittelsysteme in den verschiedenen historischen Epochen verändert haben, dann ist für mich Folgendes am faszinierendsten: Es ist die Erkenntnis, dass eine Identität nicht etwas Festes ist, in Stein gemeißelt und unveränderlich wie die Tafeln eines archaischen Gesetzes. Spaghetti mit Tomatensoße oder Pizza werden heute als italienisches Identitätsgericht wahrgenommen, aber noch vor hundert Jahren hätte man sie wahrscheinlich als Gerichte aus Neapel angesehen, die in den meisten Teilen Italiens exotisch oder unbekannt waren, wie aus Kochbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hervorgeht. Das italienische Beispiel deutet darauf hin, dass etwas Ähnliches immer passiert: Kulturelle Identitäten und Lebensmittelsysteme entwickeln sich ständig weiter und sind immer das Ergebnis von Austausch und Wechselbeziehungen, Begegnungen und Zusammenstößen zwischen Völkern und Kulturen. Man denke nur daran, wie Lebensmittel aus aller Welt in unser Lebensmittelsystem eindringen, von Sushi bis Kebab. Außerdem befinden wir uns in einer Zeit, in der die Klimakrise den Mythos der Ursprünge in Frage stellt. Was für bestimmte Gebiete spezifisch und typisch war und die Einzigartigkeit und das „Typische“ ihrer Lebensmittelprodukte garantierte (man denke an Weine, aber auch generell an alle landwirtschaftlichen Produkte), verändert sich unaufhaltsam, und wenn im Mittelmeerraum der Anbau von Produkten tropischen Ursprungs auftaucht (z. B. die Mango in Sizilien), bewegt sich der Anbau von Olivenöl und Wein in bisher ungeahnte Breitengrade.
Auf die Frage, was die wichtigste Zutat seiner Küche sei, antwortete Massimo Bottura einmal: „Kultur!“. Das italienische Beispiel lehrt uns, mit „Traditionen“ vorsichtig zu sein: Wie ein anderer großer Historiker, Eric Hobsbawm, erklärte, werden Traditionen oft in Krisenmomenten in einer Gesellschaft erfunden, die durch eine schwer zu verstehende Gegenwart verwirrt ist. Die „Tradition“ der italienischen Küche bestand für die große Mehrheit der italienischen Bevölkerung aus Jahrhunderten des Hungers, aus Polenta im Norden und Kräutersuppen im Süden. Es gibt sicherlich viele Dinge, die wir aus der bäuerlichen Welt der Vergangenheit zurückholen müssen, aber ohne falsche Mythen zu verbreiten.
Bruno Ciccaglione
ist Privatkoch, langjährig erfahrener Aktivist, lebt seit 2008 in Wien. Autor von „Kleinen Gourmandisen“ zu, Artischocke, Zitrone, Fenchel, Radicchio und Weizen im Mandelbaum Verlag. Hompepage: www.saporito.at
Buchhinweise:
Alberto Grandi: Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche. Hamburg: HarperCollins. 2024
Massimo Montanari: Spaghetti al pomodoro. Kurze Geschichte eines Mythos. Berlin: Wagenbach. 2020
Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift „Bäuerliche Zukunft“ Nr. 384, 4/2024 erschienen. Nähere Informationen zur Zeitschrift siehe hier.