Das ist eine zentrale Frage für uns alle. Diese Stellungnahme hat die Europäische Koordination Via Campesina (ECVC) zur Öffentlichen Konsultation der Europäischen Kommission zu: „Ländliche Entwicklung – eine langfristige Vision für ländliche Gebiete“ im September abgegeben.
Von der Europäischen Koordination Via Campesina
Für die Europäische Koordination Via Campesina (ECVC) ist die aktuelle Lage in ländlichen Gebieten der Europäischen Union aufgrund der Wirtschaftsmodelle, die in diesen Gebieten vorangetrieben und umgesetzt wurden, besonders besorgniserregend.
Der Agrarsektor als der wichtigste Sektor in ländlichen Gebieten wird durch ungerechte Agrar-, Energie- und Ernährungspolitiken umstrukturiert. Diese begünstigen große agroindustrielle Betriebe und die exportorientierte Landwirtschaft. Dadurch treibt dieses System Kleinbauern und -bäuerinnen in den Bankrott, Landflucht ist oftmals die Folge. Im Zeitraum von 2000 bis 2012 gingen in der europäischen Landwirtschaft 4,8 Mio. Vollzeitarbeitsplätze verloren. Europa hat zwischen 2003 (12 Mio. Höfe) und 2013 (8 Mio. Höfe) 4 Mio. Höfe, also ein Drittel der kleinen Höfe verloren. Gleichzeitig verfügen Großbetriebe über mehr und mehr Land. Rund 20 % der Betriebe in der EU erhalten 80 % der Agrarsubventionen, was die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) für kleine Höfe und Bürger*innen delegitimiert. Zusätzlich wird die GAP zunehmend wegen ihrer Auswirkungen auf das Klima kritisiert, während gleichzeitig die industrielle Landwirtschaft stark gefördert und die kleinstrukturierte und agrarökologische Landwirtschaft oftmals an den Rand gedrängt wird. Zusätzlich führte das Fehlen einer angemessenen Markt- und Preisregulierung im Agrarsektor dazu, dass Arbeitsplätze zerstört wurden und zugleich die verbleibenden Arbeitskräfte besonders verwundbar waren und unter Druck kamen.
Deshalb soll aus Sicht der ECVC die Schaffung einer neuen Vision für ländliche Räume mit einem radikalen Wandel der Agrar- und Handelspolitik der EU und der Mitgliedsstaaten beginnen.
Die europäischen Institutionen schlagen oft Technologie und technische Innovationen als Lösungen für diese Probleme vor. Dies verdeckt die Tatsache, dass diese Probleme vor allem durch die politische Entscheidung entstehen, den Agrarsektor als einen kommerziellen Sektor wie jeden anderen zu behandeln. Diese Entscheidung wird vor allem durch Profitinteressen der transnationalen und privatwirtschaftlichen Akteure angetrieben.
Angesichts der Abwanderung aus ländlichen Gebieten, der zunehmenden Auswirkungen der Klimakrise und der COVID-19-Pandemie sollen EU-Politiker*innen die Gelegenheit ergreifen, um den landwirtschaftlichen Sektor wieder ins Zentrum zu rücken, insbesondere einige Schlüsselfragen:
Wiederbelebung ländlicher Regionen und Förderung der Generationennachfolge
Die Abwanderung und der damit verbundene hohe Altersschnitt der ländlichen Bevölkerung muss durch die Schaffung von landwirtschaftlichen und nicht-landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen aufgehalten werden. Ebenso braucht es Verbesserungen beim Angebot öffentlicher Dienstleistungen, insbesondere im öffentlichen Verkehr, sowie im Gesundheits-, Bildungs- und Ausbildungsbereich.
Langfristig nachhaltige Landwirtschaftsmodelle für die Resilienz unserer Lebensmittelsysteme schaffen
Es gibt den Bedarf, bäuerliche Landwirtschaft so weiterzuentwickeln, dass die Zahl von Klein- und Mittelbetrieben in ländlichen Regionen steigt und dass dadurch die Expansion der industriellen Landwirtschaft gestoppt wird. In den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte der gegenwärtigen Bauern und Bäuerinnen in Pension gehen. Ohne angemessene Einrichtungen werden ländliche Regionen immer leerer und über die weitere Industrialisierung werden die destruktiven Auswirkungen auf die Autonomie, auf die Einkommen der Bauern und Bäuerinnen und auf den Planeten fortgesetzt. Die Resilienz unserer Agrar- und Lebensmittelsysteme muss so gestützt werden, dass neoliberale Politiken gestoppt werden und jene Spezialisierung verhindert wird, die den Gesetzen der internationalen Märkte und der Exportabhängigkeit gehorcht. Wir müssen die Autonomie von Höfen entwickeln, zum Beispiel indem qualitativ hochwertiges Futter für hofeigenes Vieh produziert wird – auch um die aktuellen ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen zu bewältigen. Bauern und Bäuerinnen müssen die Kontrolle über die vollständige Produktionskette haben und Erzeuger*innenpreise für landwirtschaftliche Produkte erhalten, die sich lohnen. Die Preise für Agrargüter dürfen nicht vom Weltmarkt abhängig sein.
Um mehr Ernährungssouveränität zu erreichen, muss die landwirtschaftliche Produktion relokalisiert werden: Die hofeigene Verarbeitung und die Stärkung von Bauernmärkten, sowie Kreisläufe in der Region müssen ausgebaut werden. Dezentrale Infrastrukturen zur Verarbeitung, wie etwa lokale Schlachthäuser haben sich bedeutend reduziert und lokale Wertschöpfungsketten wurden immer weiter verdrängt. Mehr Wertschöpfung über lokale Produkte kann entlegene Gebiete, wie etwa Bergregionen beleben, indem kleine Strukturen und bessere Kontakte mit Konsument*innen ausgebaut werden. Die öffentliche Beschaffung kann über den Kauf der öffentlichen Hand von lokalen oder agrarökologischen Lebensmitteln Fortschritte für die ländliche Entwicklung mit vorantreiben.
Die Regulierung von Märkten, die Neuausrichtung von Wertschöpfungsketten zugunsten von Bauern und Bäuerinnen und die Einschränkung zügelloser Konkurrenz sind dringend notwendige Maßnahmen, um würdige Einkommen zu ermöglichen. In Zukunft müssen Landwirtschaft und Lebensmittel wieder zu zentralen Eckpfeilern und Grundlagen der Gesellschaft werden.
Der Zugang zu bäuerlichem Saatgut muss gesichert sein und alle Versuche der Deregulierung von GVOs – einschließlich der neuen genomischen Techniken – müssen durch die strikte Anwendung der bestehenden europäischen Gesetzgebung zu GVOs und des Verbots von Patenten auf Pflanzen und Tiere gestoppt werden. Diese Patente stehen offenkundig im Widerspruch zu den Rechten von Bauern und Bäuerinnen und Reisbäuer*innen, wie es in Artikel 9 des Internationalen Vertrags für pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (ITPGRFA) und Artikel 19 der UN-Erklärung für die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten (UNDROP) festgehalten ist.
Das Thema des Zugangs zu Land muss gelöst werden. Der faire Zugang zu Land für Kleinbäuer*innen und Agrarökologie muss durch die Ausarbeitung und Umsetzung einer EU-Landrichtlinie gesichert sein. Dabei muss der Leitfaden des Committee for Food Security (CFS) zu Landnutzung[1] auf europäischer Ebene umgesetzt werden und es muss allen Formen von Landspekulation ein Ende gesetzt werden.
Wir müssen innovativ sein und die Arbeit vor Ort verbessern und die konkreten Besonderheiten des Landes mehr wertschätzen: Das wird nicht eine Frage überbordender Digitalisierung sein, sondern vielmehr eine Frage der feinen Abstimmung auf die besonderen Bedürfnisse eines jeden Schlages, sowie auf jene der kleinbäuerlichen Produktion.
GAP – Die zweite Säule der Ländlichen Entwicklung
Das Budget der GAP für die zweite Säule muss mit der Vision lebendiger, wohlhabender und nachhaltiger ländlicher Regionen konsistent sein. Die vorgeschlagenen Budgetkürzungen in der zweiten Säule für die GAP nach 2020 sind ganz besonders schlecht und werden ernsthafte Probleme, insbesondere in den Politiken zur Ländlichen Entwicklung verursachen.
Wenn Europa die Ziele erreichen will, die in der Farm-to-Fork- und der Biodiversitätsstrategie innerhalb des Rahmens des Green Deals gesetzt wurden, dann muss die Förderung junger Menschen und von Neueinsteiger*innen, für benachteiligte Gebiete wie etwa Berggebiete, für den agrarökologischen Übergang und für Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen ausgebaut werden. Das Ziel, dass mindestens 25 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche bis 2030 mit Biolandwirtschaft bewirtschaftet werden soll, muss gefördert werden und durch Maßnahmen begleitet sein, die auf langfristige und nachhaltige Agrarmodelle in einer agrarökologischen und selbstbestimmten Perspektive gerichtet sind. Zu diesem Zweck sind die Förderungen aus der zweiten Säule für Ländliche Entwicklung wesentlich, um einen langfristigen und nachhaltigen Übergang zu schaffen.
Die Rechte von in ländlichen Regionen lebenden Menschen anerkennen
Die Resilienz und die Entwicklung ländlicher Regionen kann nicht einzig auf einer ökonomischen Sichtweise beruhen. Auch der soziale Aspekt ist zentral. Agrarpolitiken und Politiken der Ländlichen Entwicklung müssen sicherstellen, dass angemessene Einkommen und Arbeitsbedingungen für am Land Arbeitende gegeben sind, sie müssen von Missbrauch und Kündigung geschützt sein, einschließlich besonderer und geeigneter Maßnahmen für Saisonarbeiter*innen, sowie für Geflüchtete mit prekärem Aufenthaltsstatus. Bauern und Bäuerinnen, sowie alle am Land lebenden Menschen müssen in politischen Entscheidungsprozessen mitgestalten können. Die politische Gestaltung ländlicher Regionen muss durch bessere Mitbestimmung der ländlichen Bevölkerung verbessert werden.
Die europäische Handelspolitik verändern
Eine neue Vision für ländliche Regionen muss eine neue Handelspolitik für landwirtschaftliche Produkte beinhalten. Das muss die Neuverhandlung der WTO-Regeln und den Ausschluss von Handelsabkommen, die die Bäuerlichen Rechte nicht respektieren, einschließen. Agrarhandel muss völlig neu gedacht werden, und zwar im Kontext einer sozialen und ökologischen Verankerung der landwirtschaftlichen Produktion. Ohne diese wird ein Übergang in eine nachhaltige Produktion niemals möglich sein.
Die Wettbewerbspolitik verändern
Die Mechanismen müssen so gestaltet sein, dass sie die bäuerlichen Einkommen durch die Wettbewerbspolitik schützen. Landwirtschaft soll als eine Ausnahme in diesem Bereich definiert sein. Ebenso müssen wir Wettbewerbsverzerrungen bei Agrarimporten vermeiden, die durch niedrige Preise die bäuerlichen Einkommen untergraben. Es gibt den großen Bedarf, die Stellung der Bauern und Bäuerinnen in der Wertschöpfungskette zu stärken und echte Produzent*innenorganisationen zur Angebotsregulierung zu schaffen.
Europäische Koordination Via Campesina (ECVC), am September 2020
Hinweis: die Öffentliche Konsultation der Europäischen Kommission zu: „Ländliche Entwicklung – eine langfristige Vision für ländliche Gebiete“ ist noch bis 30. November 2020 offen und kann von Menschen, die in ländlichen Regionen leben oder auch von Organisationen etc. beantwortet werden. Siehe hier (am oberen Rand kann die Sprache auf „Deutsch“ umgestellt werden)
Informationen zum Fahrplan hier
[1] „Leitlinien zur verantwortungsvollen Regulierung der Land-, Fischbestands- und Waldnutzung“