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Longo maï in der Ukraine. published on

Longo maï in der Ukraine.

Im April hatte ich die Gelegenheit, für drei Wochen nach Transkarpatien zu reisen und bei der Aufnahme von Geflüchteten zu helfen.

Von Heike Schiebeck

In dieser Region im Südwesten der Ukraine, die bisher vom Krieg verschont blieb, betreibt eine kleine Gruppe von Longo maï im Dorf Nischnje Selischtsche eine diversifizierte Landwirtschaft mit Kühen, Schweinen, Ziegen, einer Käserei, Obstbäumen und Apfelsaftherstellung. Gleich zu Beginn des Krieges hatten sich Freund*innen aus dem umkämpften Kyiw und den östlichen Regionen Donezk und Luchansk hierher in Sicherheit gebracht. Die zwei Häuser, in denen vorher 5 Erwachsene und zwei Kinder lebten, beherbergten nun 40 Personen.

Longo maï ist ein provenzalischer Gruß, er bedeutet: Es möge lange dauern. Tatsächlich leben seit 1973 inzwischen insgesamt 200 Erwachsene und zahlreiche Kinder in 11 selbstorganisierten Hofgemeinschaften, die wir Kooperativen nennen, in mehreren europäischen Ländern zusammen, darunter auch Rumänien und die Ukraine.

Im Dorf Nischnje Selischtsche mit nur 2.000 Einwohner*innen hielten sich bis zu 1000 Binnenvertriebene auf, vor allem Frauen und Kinder. In der Schule, im Kindergarten, im Gästehaus von Longo maï und in Privathäusern, überall wurden eilig Matratzenlager eingerichtet. Wir konnten 15 Kleinbusse nach Transkarpatien bringen, die mit medizinischem Material, Lebensmitteln, Generatoren und Solarpanelen beladen von ukrainischen Fahrern in die Nähe der Front gebracht wurden und ständig Menschen aus den umkämpften Gebieten evakuieren.

Die Käserei im Dorf entstand auf Initiative von Longo maï bald nach dem Mauerfall. Sie würde heuer ihr 20-jähriges Jubiläum feiern, wenn kein Krieg wäre. Viel Käse wird jetzt gratis an die Vertriebenen abgegeben. Wir unterstützen die Käserei mit Spendengeldern, damit sie überleben kann und den Bauern und Bäuerinnen auch weiterhin die Milch abkauft. In dem dazugehörigen Restaurant, erst vor einem Jahr eröffnet und gleich zu Kriegsbeginn in eine Kantine umgewandelt, werden täglich bis zu 300 warme Mahlzeiten gratis ausgeteilt. Unter Anleitung einer Köchin bereiten 10 Freiwillige das Essen zu.

Um die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die Ernährungssouveränität in den Karpatendörfern zu stärken, wo nun viel mehr Menschen ernährt werden müssen, haben wir nachbaufähiges Saatgut organisiert. Viele Kleinlandwirtschaften dienen der Selbstversorgung, Überschüsse werden auf den lokalen Märkten verkauft. Diese Hauswirtschaften unter 5ha Fläche erzeugen Kartoffeln, Mais, Fleisch, Eier, Milch, Gemüse und Obst, insgesamt fast die Hälfte der gesamten Agrarproduktion der Ukraine. Wie sich jetzt während des Krieges wieder zeigt, sind sie viel weniger krisenanfällig als die flächenstarken Großbetriebe, die mit viel Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden Getreide für den Export produzieren.

In Nischnje und den umliegenden Dörfern haben wir 25 Tonnen Saatkartoffeln aus Österreich und Rumänien, davon 5 t von der Via Campesina Schwesterorganisation Eco Ruralis gespendet, an 500 Familien verteilt. Ohne unsere Leute vor Ort mit ihrem großen Kontaktnetz wäre das nicht möglich gewesen. Wir konnten 4 Tonnen samenfestes Biomais-Saatgut in kurzer Zeit in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Frankreich organisieren und in 2kg Säckchen abgepackt an die Hauswirtschaften abgeben. Für die Eigenversorgung mit Polenta wird Mais auf kleinen Feldern meist von Hand ausgesät. Es war gar nicht so einfach, nachbaufähigen Mais zu finden, denn auch Biomais besteht in der EU fast ausschließlich aus Hybridsorten. Im Dorf richten wir außerdem gerade eine Mühle ein, um eigenes Brotmehl herzustellen.

Es ist wundervoll zu sehen, wie viele Menschen schnell und solidarisch handeln. Sogar ein französischer Bauer, der mit der Frühjahrsaussaat beschäftigt war, nahm sich mehrere Tage Zeit, um einen Saatgut-Transport zu machen. Wir haben noch viele Ideen, um die bäuerliche Landwirtschaft zu unterstützen. In den von Abwanderung betroffenen transkarpatischen Dörfern könnten einige Vertriebene, die alles verloren haben, ein neues Zuhause finden.

Heike Schiebeck, Longo maï

Spenden: Wer spenden möchte, kann gerne einen Beitrag auf das Konto des “EBF-Österreich” (Obfrau: Heike Schiebeck) mit dem Vermerk “Ukrainehilfe” überweisen.
Posojilnica Bank
IBAN: AT70 3910 0000 0805 5451