Im September erscheint das vor fast 100 Jahren von Otto Bauer verfasste Buch neu. Wir haben mit der Herausgeberin darüber gesprochen.
Interview mit Lisa Francesca Rail – aus der Zeitschrift “Bäuerliche Zukunft” Nr. 383
Was interessiert dich an diesem Buch?
Ich forsche zu heute existierenden Commons in der Almwirtschaft. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass ich mich mit der Geschichte dieser Allmenden befassen muss, um sie zu verstehen. Das ist eine Geschichte von Einschränkungen, aber auch von unterschiedlichen Pfaden der Verrechtlichung. Die Literatur dazu ist relativ dünn. Aber ein Buch, das einen guten Überblick schafft, ist das von Otto Bauer: Es beleuchtet systematisch die Geschichte der Allmenden und ihrer Einhegung für den österreichischen Raum. Zugleich geht es aber auch allgemein um die Geschichte der Eigentumsverhältnisse in der Land- und Forstwirtschaft in Österreich.
Das Buch war bisher nur schwer zugänglich, was sich nun ändert. Ich habe eine Einführung geschrieben, welche die Brücke in die Gegenwart schlägt. Zusätzlich wird auch noch das Agrarprogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs abgedruckt, das aufbauend auf “Der Kampf um Wald und Weide” beschlossen wurde und Positionierungen zur Bodenpolitik enthält. Das alles ist Teil einer Geschichte, die viele Menschen in Österreich beschäftigt hat und bis heute betrifft und insofern eine weitere Diskussion verdient.
Worum geht es in dem Buch?
Es geht um Grundlagenforschung zu Eigentumsverhältnissen an Land. Als solche sollte es die Basis für angemessene bodenpolitische Entscheidungen schaffen. Otto Bauer hat sich dieser Aufgabe angenommen und das Buch 1925 veröffentlicht.
Seine Geschichtsschreibung beginnt im 6. Jahrhundert mit der (Wieder-)Besiedelungsgeschichte von dem, was heute Österreich ist. Sie geht dann über in eine Zeit, in der gutsherrschaftliche oder landesfürstliche feudale Machtverhältnisse beginnen, die bäuerlichen Besiedler*innen in ihrer Landnutzung einzuschränken. Er zeichnet die verschiedenen Wellen der Beschränkungen, der Formalisierung und der Aufspaltung des bäuerlichen Zugangs zu Land nach, die bis in seine Gegenwart 1925 reichen.
Es ist eine machtkritische Geschichte, die auch sensibel gegenüber der inneren Differenzierung der Landbevölkerung ist. Über die Jahrhunderte vollzieht sich über die Beschränkung von oben im Zugang zu Land auch eine interne Differenzierung innerhalb der Bauernschaft. So gelingt es etwa teilweise bäuerlichen Eliten, die Allmenden anzueignen und das Dorfproletariat, die Häusler*innen, die Achtelbauern usw. auszuschließen. Oder Alteingesessene schaffen es, die alten Allmenden so zu formalisieren, dass sie nur den alten Häusern zustehen und alle, die sich später ansiedeln, nicht mehr Zugang haben. Das alles kam vor. Ich finde diese Geschichte sehr hilfreich, um die heutige Diversität der Gemeinschaftsgüter in Österreich zu verstehen.
Was sind sonst noch wichtige Punkte?
Die bodenpolitischen Vorschläge, die Bauer aus seiner Geschichte der Macht- und Eigentumsverhältnisse ableitet. Bauer vertritt dabei eine Sozialisierung des Bodens, die nicht gegen die kleinbäuerliche Landwirtschaft gerichtet ist. Es geht darum, dass Boden und seine Nutzung dem Gemeinwohl zugeführt wird, anstatt kapitalistischen Profitinteressen zu folgen.
Bei der Erklärung, wie das stattfinden soll, geht differenziert vor: Einerseits sollen Allmenden wieder ausgebaut werden. Sie sollen als eine Art Sozialversicherung am Land und eine Art Umverteilungsmechanismus für ärmere Dorfschichten funktionieren. Die alten Allmenden sollen redemokratisiert, zu Lasten von Großgrundbesitz vergrößert werden. In der Vergangenheit eingerichtete Ausschlussmechanismen gilt es aufzuheben.
Aber auch Eigenwirtschaften können Teil dieser sozialistischen Agrarutopie sein. Sie sollen als kleinbäuerliche Eigenwirtschaften weiter agieren. Man solle sie unterstützen, sich genossenschaftlich zusammenzuschließen, aber sie sollten nicht zusammengelegt werden im Sinne einer Modernisierungsidee, wo alles industrialisiert und vergrößert werden muss. Bauer achtet darauf, dass es gerade im Bergland und aufgrund der naturräumlichen Bedingungen in Österreich Regionen gibt, in denen kleinbäuerliche Landwirtschaft hochgradig Sinn macht. Das solle nicht angetastet werden.
Bauer analysiert differenziert, wie Landwirtschaft funktioniert, sowohl ökologisch, als auch sozialpolitisch. Er begreift Höfe auch als Arbeitsplätze und erkennt an, dass bestimmte Territorien eben nicht für die Industrialisierung geeignet sind und dass es da eben Vorteile der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gibt. Wichtig ist hier, dass dieses Buch vor der stalinistischen Kollektivierung entstanden ist – eine Zeit in der es offensichtlich Raum für sozialistische Utopien für die kleinbäuerliche Landwirtschaft gab. Ich denke, dass es solche Utopien unbedingt braucht.
Was versteht man unter Sozialisierung? Und wie verhält sich das zu den Commons?
Also Otto Bauer benutzt das Wort „Sozialisierung“ und „Vergesellschaftung“ und er meint damit eine „planmäßige Wirtschaft“ (nicht Planwirtschaft). Er meint, dass in einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Wirtschaft die Organisation von Arbeit, oder von dem, was produziert wird, über anonyme Marktkräfte und im Profitinteresse von Einzelnen geregelt wird. „Vergesellschaftung“ steht im Gegensatz dazu für eine Demokratisierung der Wirtschaft. Also dass eigentlich alle Menschen, die arbeiten und/oder konsumieren, demokratisch und partizipativ an der Gestaltung der Wirtschaft teilhaben sollten. An der Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse, die möglichst gut sein sollen, aber auch an der Gestaltung dessen, was wie produziert und gebraucht wird. Vergesellschaftung ist die Aneignung der Entscheidungsmöglichkeit und der Mitgestaltung der Wirtschaft. Das heißt „Vergesellschaftung“: Die Politisierung und Demokratisierung von Ökonomie.
Interessanterweise sind Commons auch solche Orte. Da ist einerseits das Eigentum an der Grundlage des Wirtschaftens: An Weiden, aber auch an Wasser usw. Andererseits ist da eine Gruppe. Diese Gruppe muss sich intern ausmachen, wie sie die Nutzung gestaltet. Das ist nun in der Praxis nicht immer basisdemokratisch. Es gibt viele Formen des Ausschlusses: Zum Beispiel werden Frauen oft ausgeschlossen. Aber grundsätzlich muss Aushandlung stattfinden: Dieser Aushandlungsprozess ist politisch – Politisches und Wirtschaftliches sind nicht getrennt. Deswegen könnte man auch sagen, dass Commons eigentlich Zellen von vergesellschafteter und sozialisierter Wirtschaft sind oder sein können.
Bauers Vision von einer gesamten Sozialisierung der Wirtschaft wäre, dass auf verschiedenen Ebenen alles demokratisch konstituiert ist – inklusive der Landwirtschaft. Er sagt, dass man bei der Sozialisierung von Landwirtschaft schauen sollte, was es da schon für gemeinschaftliche Institutionen gibt, etwa die Allmenden.
Für kleinbäuerliche Landwirtschaften wäre Sozialisierung ideal über Genossenschaften umgesetzt: Dass sich Bäuer*innen untereinander und mit den Konsument*innen zusammenschließen und sich die Lebensmittelversorgung selbst aushandeln. Spannend ist dabei mit Blick auf heute existierende Genossenschaften, dass Bauer auch anmerkt, dass diese Idee zwar gut ist, aber dass man aufpassen müsse, dass das nicht wieder von (Dorf-)Eliten vereinnahmt wird. Da hat er gewissermaßen die Entwicklung von Raiffeisen an vielen Punkten vorweggenommen. Er betont aber, dass die Idee der Kooperation in kleinen Zellen und der genossenschaftliche Zusammenschluss, sehr sinnvoll ist.
Warum ist dieses Buch heute wichtig?
Erstens auf der kleineren Ebene für die Commons, die es bis heute vor allem in der Almwirtschaft gibt: Agrargemeinschaften, Gemeindegut, Einforstungsrechte. Die stehen teilweise vor großen Herausforderungen, weil es so schwierig geworden ist, überhaupt Almwirtschaft bzw. die einzelnen Kleinbetriebe, die die Commons konstituieren, zu erhalten. Ich sehe in meiner Forschung, dass es hierbei manchen kollektiven Formen schwerer fällt als anderen. In Bezug auf die Frage, welche Möglichkeiten es gäbe, alte Commons in sozialer, klimatischer oder ökonomischer Hinsicht an die Gegenwart anzupassen, finde ich spannende Ansätze bei Otto Bauer. Wenn etwa Agrargemeinschaften, die aus einzelnen alteingesessenen Höfen bestehen, in Gemeindeverwaltung gehen würden, könnte demokratisch beschlossen werden, dass öffentliches Geld in die Almerhaltung reingesteckt werden soll, weil zum Bespiel alle die Almen als Naherholungsraum und für ihre Biodiversität schätzen. Von der Diskussion, was der Wert von Almen ist, sind gerade einfach ganz viele lokale Bevölkerungsschichten ausgeschlossen, weil die Commons so formalisiert worden sind. Hier geht es also darum, die Commons umzugestalten. Genau das hat Otto Bauer vorgeschlagen: Idealerweise sollten alle in der Gemeinde an der Allmende Wert schöpfen, aber auch alle Verantwortung für sie tragen. In dieser Hinsicht ist – in aller Widersprüchlichkeit – die Diskussion in Tirol zur Rückübertragung von Agrargemeinschaften an die Gemeinden sehr spannend.
Zweitens ist es wichtig zu sehen, dass es weiterhin eine zunehmende Bodenkonzentrationen in Händen von Wenigen gibt. Es gibt weltweite Land Grabs, auch in der EU und auch in Österreich. Es gibt einfach Bodenkonzentration, zusammenhängend mit dem Höfesterben, wenn Flächen von Größeren aufgekauft oder zusammengepachtet werden. Interessant bei Otto Bauer ist hierzu, dass er sich nicht nur für die Produktivität interessiert, sondern Landwirtschaft auch als Frage der Sozialpolitik begreift: Es geht um Lebensentwürfe, es geht um Lebensmöglichkeiten am Land. Wenn dann zu viel Besitz konzentriert ist, dann passiert oft eine Aufspaltung in Grundbesitzer*innen und Landarbeiter*innen. Und gleichzeitig wird ganz vielen Leuten der freie Lebensunterhalt verwehrt. Er schreibt in dem Zusammenhang darüber, warum es zur Verschuldung von Höfen kommt. Er sieht, dass viele Kleinsthöfe Boden überbezahlen, weil sie die Freiheit selbst wirtschaften zu können, oder ihre Lebensentwürfe nicht aufgeben wollen. Die Fragestellungen, was attraktive Lebensentwürfe am Land sind, oder sein können, und was das mit Landwirtschaft und Eigentumsstrukturen zu tun hat, das sind alles weiterhin wichtige Punkte.
Drittens ist weiter die Frage und Kritik wichtig, wo in oder mit der Landwirtschaft die Wertschöpfung passiert. Also dass viele Bauern und Bäuerinnen selber ihr Land besitzen, aber trotzdem oft ausbeutbar sind oder ausgebeutet werden. Etwa durch Handelskapital – wie es bei Otto Bauer heißt – also durch Abhängigkeit von den vor- und nachgelagerten Industrien und Abnehmern.
Was sind Leerstellen im Buch?
Die größte Leerstelle ist sicherlich die feministische. Bauer sieht, dass Landwirtschaft auch ein soziales Verhältnis ist. Aber die Lage von Frauen, oder auch von Jungen, kommt nicht vor. Dass es in bäuerlichen Haushalten Differenzierungen, unterschiedlich verteilte Arbeitslasten und Machthierarchien gibt, wird nicht behandelt. Das müsste auf jeden Fall ergänzt werden.
Eine andere Leerstelle sind die Naturverhältnisse: Bauer vermittelt ein Verständnis für unterschiedliche Zwecke von Wald und Weide, von Land und Umwelt, aber es sind immer Zwecke für Menschen. Es bleibt ein sehr anthropozentrisches Naturverständnis, also mit dem Menschen im Zentrum. Eine Idee von Eigenwert und ein Überdenken der Ausbeutbarkeit von Natur und von Nichtmenschen gibt es nicht und das müsste heute auch erweitert werden.
Drittens sind kleine Höfe zwar Teil seiner Utopie, Otto Bauer begründet ihre Vorteile aber eher durch die geografisch-topografischen Gegebenheiten und durch ihre sozialen Funktionen. Er stellt kleine Höfe aber nicht grundsätzlich über Großbetriebe. Wenn Österreich also flach wäre, dann wäre er wohl auch für (genossenschaftlich geführte) Großbetriebe. Er sieht keinen ökologischen oder sonstigen Wert der kleinbäuerlichen Landwirtschaft an sich durch die Art der Produktion. Insofern folgt er schon auch dem Ideal des industriell-technischen Fortschritts, den man sonst mit vergangener sozialistischer Agrarpolitik assoziiert, was wiederum ja auch mit dem Naturbegriff zusammenhängt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieses Interview ist zuerst in der Zeitschrift “Bäuerliche Zukunft” Nr. 383/2024 erschienen.
Nähere Infos zum Buch und zur Herausgeberin:
Der Kampf um Wald und Weide. Studien zur österreichischen Agrargeschichte und Agrarpolitik; herausgegeben und mit einer Einleitung von Lisa Francesca Rail. Wien. Mandelbaum Verlag 2024 – Nähere Infos hier.
Lisa Francesca Rail ist Kultur- und Sozialanthropologin und forscht zu Commons und Eigentumsverhältnissen in der Almwirtschaft.