Offener Brief an die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Mitglieder des Europäischen Parlaments und die Europäische Kommission
Deregulierung der GVOs/Neuen Gentechnik (NGTs): Werden Sie zustimmen, dass der europäische Agrarsektor und kleine Saatgutunternehmen durch die Patente von wenigen Konzernen zerstört werden?
Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Parlaments,
sehr geehrte Repräsentant:innen der Mitgliedsstaaten der EU,
sehr geehrte EU-Kommissare für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und für den Binnenmarkt,
Im Namen der europäischen Bauernorganisationen, die von der Europäischen Koordination Via Campesina (ECVC) repräsentiert werden, möchten wir Sie über die Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft befragen: Werden Sie zulassen, dass sich einige wenige Saatgutkonzerne das bäuerliche und traditionelle Saatgut über Patente aneignen?
Diese Aneignung des gesamten Saatguts wird in dem vom Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten am 14. März beschlossenen Verhandlungsmandat befürwortet, indem der Vorschlag der Kommission zur Deregulierung neuer GVOs (die durch “neue genomische Techniken” – GVOs/NGTs gewonnen werden) zugunsten einer Handvoll multinationaler Biotech-Konzerne unterstützt wird. Diese Konzerne wollen mit ihren Patenten die gesamte globale Nahrungsmittelkette kontrollieren.
Am 7. Februar 2024 hat das Europäische Parliament die Patentierbarkeit von diesen GVOs/NGTs abgelehnt. Die letzte Version des Vorschlags, der von Polen vorgebracht wurde und dem die Mitgliedsstaaten zugestimmt haben, löst dieses Problem der Patente nicht. Als Mitglieder des Europäischen Parlaments haben Sie die Verantwortung, die EU-Bürger:innen zu schützen, indem Sie in den bevorstehenden Trilog-Verhandlungen diese Entscheidung durchsetzen und dem vom Rat, der Kommission und der Biotech-Industrie ausgeübten Druck widerstehen.
Das einzige Ziel der Biotech-Industrie, das nun erreicht zu sein scheint, ist die Abschaffung und Verhinderung der Rückverfolgbarkeit der “neuen” GVOs/NGTs. Insbesondere wollen sie verhindern, dass sie dazu verpflichtet werden, die Verfahren zum Nachweis und zur Identifizierung von genetischen Veränderungen, die mit NGTs erzielt wurden, zu veröffentlichen.
Dies würde folgendes mit sich bringen:
- Die Aneignung über Patente des gesamten bäuerlichen und traditionellen Saatguts, das eine genetische Sequenz oder Information enthält, welche den genetischen Sequenzen oder Informationen “ähnlich” sind, die durch die genetische Modifizierung erhalten wurde und welche durch ein Patent abgedeckt ist. Das bedeutet, Biopiraterie legal in die Praxis umzusetzen. Jedoch ist das, was “ähnlich” ist, nicht notwendigerweise “identisch” – außer leider in einem Fall: Das europäische Patentgesetz beschränkt sich selbst ausschließlich auf kurze chemische und numerische Darstellungen dieser Sequenzen oder Informationen.
- GVOs/NGTs werden denjenigen aufgezwungen, die sie nicht kaufen, anbauen und konsumieren wollen, was zur Zerstörung des GVO-freien Agrarsektors führt;
- Die Befreiung der Saatgutunternehmen von jeglicher Haftung im Falle von Gesundheits- oder Umweltschäden, die durch die Verbreitung und den Konsum dieser nicht mehr identifizierbaren GVOs/NGTs entstehen. Das bedeutet, dass jegliche Entschädigung für derartige Schäden den Steuerzahler:innen angelastet wird.
Wollen Sie in Anbetracht all dessen zulassen, dass unsere Lebensmittelsicherheit und Ernährungssouveränität von sechs multinationalen Biotech-Konzernen kontrolliert wird, die bereits jetzt die überwiegende Mehrheit der GVO/NGT-Patente besitzen und von zwei oder drei Investmentfonds kontrolliert werden?
Diese patentierten GVO werden unweigerlich zahlreiche irreversible gesundheitliche, ökologische und wirtschaftliche Schäden verursachen. Dies wird zum Verschwinden des bäuerlichen und traditionellen Saatguts führen und die Vielfalt der kleinen und mittleren europäischen Saatgutunternehmen, die unsere Souveränität garantieren, reduzieren. Wenn diese Schäden in weiterer Folge sichtbar werden, werden Sie nicht behaupten können, Sie seien nicht gewarnt worden, und Sie werden Ihre Verantwortung nicht leugnen können.
Die Anpassung der NGTs an den Klimawandel und die Reduktion der chemisch-synthetischen Pestizide sind falsche Versprechungen: Sie sind die gleichen, die in den 1990er Jahren zur Durchsetzung transgener GVOs gemacht wurden. Diese Versprechen haben sich nie erfüllt, sondern dienten nur dazu, mehr Herbizide zu verkaufen, traditionelles und biologisches Saatgut mit patentierten Genen zu kontaminieren und die Saatgutpreise für die Bäuer:innen zu erhöhen.
In Anbetracht der Position des Europäischen Parlaments zugunsten eines Patentverbots für NGTs fordert die ECVC die Mitglieder des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments auf, das Verhandlungsmandat zur Eröffnung des Trilogs zu diesem Thema nicht zu genehmigen.
Mit freundlichen Grüßen,
das Koordinierungskomitee der Europäischen Koordination Via Campesina (ECVC)
Hintergrund und weitere Hinweise: