Analyse der Europäischen Koordination Via Campesina (ECVC)
Brüssel, 18. Juli 2023
Am 5. Juli legte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für einen neuen Rechtsrahmen für neue Techniken der genetischen Veränderung vor. Dieser zielt darauf ab eine neue Definition für GVO einzuführen[1]. Mit dieser sollen – im Widerspruch zum internationalen Recht[2] – die meisten dieser durch neue Techniken gewonnenen GVOs[3] von den Verpflichtungen zur Risikobewertung, Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Kontrolle befreit werden und es soll den Mitgliedstaaten nun verboten werden, die Vermarktung und den Anbau dieser GVOs einzuschränken. Derzeit verbieten 17 europäische Länder den Anbau von GVOs teilweise oder vollständig.[4] Dieser Vorschlag würde nicht nur gegen das Vorsorgeprinzip verstoßen und alle Gesundheits- und Umweltbewertungen dieser Techniken aushebeln und Verbraucher:innen, welche keine GVOs wollen, in die Irre führen. Vor allem ermöglicht er es einigen wenigen multinationalen Saatgutunternehmen, auf das gesamte in der Europäischen Union angebaute Saatgut Patente zu beanspruchen. Die Europäische Koordination Via Campesina (ECVC), die die europäischen Klein- und Mittelbauern und -bäuerinnen vertritt, hat die Auswirkungen dieses Deregulierungsvorschlags auf die Anwendung des europäischen Patentrechts analysiert und prangert dessen katastrophale Folgen an: Biopiraterie, Privatisierung des gesamten Saatguts, monopolistische Konzentration des Saatgutmarktes, Verletzung der Rechte der Bauern und Bäuerinnen auf Saatgut, sowie die Zerstörung eines garantiert gentechnikfreien und ökologischen Landbaus. In diesem Dokument reagieren wir auf die Mängel der von der EU-Kommission Generaldirektion SANTE durchgeführten Folgenabschätzung („Impact Assessment“), in der die Patentfrage ausdrücklich ausgeklammert wurde. Nun schlägt die EU-Kommission – als Reaktion auf die Kritik, die sie erhalten hat – vor, eine Studie über die Patentfrage durchzuführen – allerdings erst 2026. Die ECVC fordert die Abgeordneten des EU-Parlaments und die Mitgliedstaaten auf, diesen inakzeptablen Vorschlag abzulehnen. Er läuft darauf hinaus, die Verbreitung dieser neuen patentierten GVOs ohne Rückverfolgbarkeit, ohne Sicherheiten für die Bauern und Bäuerinnen und ohne jegliche Einschätzung der Auswirkungen rund um das Patentrecht, zuzulassen. Siehe unsere detaillierte Analyse dazu weiter unten. |
In ihrem Deregulierungsplan schlägt die EU-Kommission vor, die neuen GVOs in zwei Kategorien zu unterteilen:
– eine “Kategorie 1” für genetisch veränderte Pflanzen, welche nicht mehr als GVOs definiert werden würden, da diese “natürlich vorkommen oder durch konventionelle Züchtung erzeugt werden können“
– eine „Kategorie 2“ für andere Pflanzen, die durch Techniken der genetischen Veränderung gewonnen wurden.
Pflanzen der Kategorie 1 wären von der Verpflichtung zur Risikobewertung, Lebensmittelkennzeichnung und Rückverfolgbarkeit ausgenommen. Dies bedeutet im Endeffekt, dass die Kommission Vorschriften einzuführen möchte, die sie nicht durchsetzen kann, da ohne Rückverfolgbarkeit und gesetzliche Nachweis- und Unterscheidungsstandards für Pflanzen der Kategorie 1 keine Kontrollen möglich sind, und somit die Unternehmen deklarieren können, was sie wollen. Sie schlägt vor, den Erklärungen der Saatgutindustrie volles Vertrauen zu schenken.
Indem die EU-Kommission behauptet, dass einige GVO “durch konventionelle Züchtung erzeugt werden könnten”, versucht sie, Zweifel zu säen. Doch es sei daran erinnert, dass alle GVOs, einschließlich derjenigen, die aus den neuen Techniken der genetischen Veränderung hervorgehen, patentiert sind.[5]Das bedeutet, dass die Unternehmen, die diese Patente besitzen, ein Monopol auf die Verwendung und den Verkauf dieser GVOs haben. Bauern und Bäuerinnen können daher ihr eigenes Saatgut nicht mehr frei verwenden und wiederverwenden, um neue Pflanzen anzubauen oder neues Saatgut zu selektieren, welches für ihre eigenen Anbaubedingungen besser geeignet ist. Wenn ihre Felder durch patentierte GVOs kontaminiert werden, können die Bauern und Bäuerinnen von den Unternehmen, die diese Patente besitzen, wegen Patentverletzung verklagt werden. Wie die nordamerikanischen Bauern und Bäuerinnen werden sie gezwungen sein, gentechnisch verändertes Saatgut zu kaufen, um nicht wegen Patentverletzung verklagt zu werden. Im Gegensatz dazu garantiert die derzeitige GVO-Gesetzgebung den Bauern und Bäuerinnen durch Kennzeichnungs- und Rückverfolgbarkeitspflichten, dass das von ihnen gekaufte Saatgut nicht gentechnisch verändert und somit nicht patentiert ist. Und in vielen europäischen Ländern wird ihnen im Falle einer zufälligen Verunreinigung Schutz geboten.
Diese Rückverfolgbarkeit, die derzeit durch die GVO-Verordnungen gewährleistet wird, ermöglicht es, Patentmissbrauch zu vermeiden: Das heißt, dass die Ausweitung des Geltungsbereichs von Patenten auf konventionelles oder bäuerliches Saatgut, das nicht das Ergebnis der patentierten Erfindung ist, unterbunden wird. Nach dem derzeitigen Stand des europäischen Patentrechts erstreckt sich der Geltungsbereich eines Patents auf genetische Informationen auf jeden Organismus, der diese genetischen Informationen enthält und ihre Funktion zum Ausdruck bringt (Artikel 9 der Richtlinie 98/44/EG). Das bedeutet, dass sich der Geltungsbereich eines solchen Patents auf konventionelles Saatgut erstrecken kann, das von Natur aus genetische Informationen enthält, die der patentierten genetischen Informationen als ähnlich beschrieben werden.[6] Die Rückverfolgbarkeit, wie sie in den geltenden GVO-Vorschriften vorgesehen ist, verpflichtet die Unternehmen, Informationen über das Verfahren zu veröffentlichen, mit dem sie ihre GVOs von anderen Produkten unterscheiden. Dies schränkt den Anwendungsbereich von Patenten auf diese GVOs auf Pflanzen ein, die aus der patentierten Erfindung stammen.
Wenn diese Verpflichtung zur Rückverfolgbarkeit für die neuen GVOs wegfällt, verlieren die Bauern und Bäuerinnen und die Züchter:innen das einzige Mittel, das ihnen zur Verfügung steht, um sich der Aneignung ihres Saatguts und ihrer Ernte durch diese Piraten-Patente zu widersetzen. Die von der Industrie und der Europäischen Kommission aufgestellte Behauptung, dass die Rückverfolgbarkeit dieser neuen GVOs unmöglich sei, ist eine Beleidigung für die seit langem bekannten vielfältigen Rückverfolgungspraktiken in verschiedenen landwirtschaftlichen Sektoren.
Was wären die Folgen eines Verlustes der Rückverfolgbarkeit? · Nichts wird verhindern, dass sich der Geltungsbereich solcher Patente auf konventionelles Saatgut erweitert, das von einem dieser GVOs kontaminiert wurde oder das ein ähnliches Merkmal wie das patentierte Merkmal aufweist. Wir sollten nicht vergessen, dass Biotech-Unternehmen Patente auf genetische Merkmale beanspruchen, die in bäuerlichem und traditionellem Saatgut identifiziert wurden, ohne dabei jedoch die Zustimmung der Bauern und Bäuerinnen einzuholen. Beim gegenwärtigen Stand des Patentrechts kommt der Verlust der Rückverfolgbarkeit daher einer Legalisierung der Biopiraterie gleich und ermächtigt multinationale Patentinhaber, das gesamte Saatgut einschließlich des bäuerlichen und traditionellen Saatguts zu privatisieren.[7] · Außerdem haben Bauern und Bäuerinnen und Züchter:innen im Falle einer zufälligen Kontamination ihrer Kulturen durch patentiertes Saatgut keinen Schutz. Es wird allein in ihrer Verantwortung liegen, dafür zu sorgen, dass ihre Kulturen nicht verunreinigt werden, was jedoch ohne die Rückverfolgbarkeit von GVO-Kulturen unmöglich ist. Der ökologische Landbau wird besonders stark betroffen sein, da GVOs im ökologischen Landbau verboten sind. Der gesamte GVO-freie Agrarsektor wird dadurch in Mitleidenschaft gezogen, da er auf das Vertrauen der europäischen Verbraucher:innen angewiesen ist, die in ihrer großen Mehrheit keine GVO kaufen wollen und transparente Informationen über die verwendeten Züchtungsmethoden verlangen. Die Zulassung des Inverkehrbringens dieser neuen GVOs ohne Rückverfolgbarkeit bedeutet daher, dass der gesamte garantiert GVO-freie Agrarsektor geopfert wird, einschließlich des ökologischen Landbaus und der geschützten Ursprungsbezeichnungen, die garantiert GVO-frei sein müssen. · Im Falle eines Patentverletzungsverfahrens müssen die Bauern und Bäuerinnen und Züchter:innen nachweisen, dass sie kein patentiertes Saatgut benutzt haben, was jedoch ohne die Verpflichtung zur Veröffentlichung des zugrundeliegenden Verfahrens zur Unterscheidung eines patentierten GVOs von einem anderen Produkt unmöglich sein wird. |
Dieses Deregulierungsprojekt stellt eine klare Verletzung der Rechte der Bauern und Bäuerinnen auf Nutzung, Wiederverwendung, Selektion und Austausch ihres Saatguts dar. Diese Rechte werden durch Artikel 9 des Internationalen Vertrags über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (ITPGRFA) garantiert, einem verbindlichen Vertrag, dem die Europäische Union beigetreten ist, sowie durch Artikel 19 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Bauern und anderer Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten (UNDROP).
In Anbetracht der aktuellen Klima- und Biodiversitätskrise hätte dieser Vorschlag desaströse Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Modelle, die die biologische Vielfalt der Ökosysteme am besten respektieren, am besten an die lokalen Klimabedingungen angepasst sind und am besten in der Lage sind, Kohlenstoff im Boden zu speichern: Die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die ökologische Landwirtschaft und die bäuerliche Agrarökologie. Der Argumentation der Saatgutindustrie folgend behauptet die Europäische Kommission immer wieder, dass diese neuen Gentechniken “nachhaltig” seien, da sie den Einsatz chemischer Pestizide verringern und den Bauern und Bäuerinnen durch die Bereitstellung von dürreresistente Sorten helfen könnten. Diese Behauptungen sind wissenschaftlich nicht belegt und beruhen auf Versprechen für wundersame Sorten, die bisher nirgendwo entwickelt wurden. – Nicht einmal in Ländern, in denen es keine Vorschriften zur Regulierung von GVOs gibt. Außerdem lässt die vorgeschlagene Deregulierung herbizidtoleranter Sorten ernsthafte Zweifel an der “Nachhaltigkeit” dieser neuen GVO aufkommen.
Es gibt Sorten, die gegen klimatischen Stress resistent sind, die an die lokalen Bedingungen angepasst sind und welche wenig oder gar keine chemischen Inputs benötigen, und diese sind nicht patentiert: Es handelt sich um von traditionellen Züchter:innen entwickelte Sorten und um Sorten, die von Bauern und Bäuerinnen entwickelt wurden, indem sie die Pflanzen vor Ort selektierten, die am besten an die lokalen Anbaubedingungen angepasst sind. Diese Sorten sind eine bewährte Lösung für nachhaltigere Landwirtschaftssysteme, doch nun schlägt die Europäische Kommission vor, sie zu verdrängen, indem sie Biopiraterie durch einige wenige Unternehmen zulässt, welche Patente auf die durch neue Techniken entwickelten GVOs besitzen.
Sechs Unternehmen kontrollieren mit ihren Patenten 60 % des weltweiten Saatgutmarktes: Bayer, Corteva, ChemChina/Syngenta, BASF, Limagrain und KWS.[8] Würden neue GVOs dereguliert, würde sich diese Konzentration aufgrund ihres auf Patenten beruhenden Geschäftsmodells noch verstärken. Corteva ist zum Beispiel im Besitz des Exklusivpatents für jede Anwendung der CRISPR/cas9-Technik bei Pflanzen. Der europäische Saatgutmarkt, der mit vielen kleinen und mittleren Saatgutunternehmen noch vergleichsweise diversifiziert ist, würde allmählich von diesen Saatgutriesen aufgesogen, was zu einer drastischen Verringerung der kultivierten Artenvielfalt und der Kontrolle des gesamten Saatguts durch einige wenige multinationale Unternehmen führen würde.
In Anbetracht der katastrophalen und unumkehrbaren Auswirkungen, die dieser Deregulierungsvorschlag auf die europäischen Bauern und Bäuerinnen, die Verbraucher:innen und die Vielfalt des Saatgutsektors haben würde, fordert die ECVC die Mitglieder des Europäischen Parlaments und die Mitgliedstaaten auf, diesen inakzeptablen Vorschlag abzulehnen und die Beibehaltung und wirksame Umsetzung der geltenden GVO-Vorschriften zu fordern.
Die ECVC fordert das Europäische Parlament außerdem auf, die begonnenen Arbeiten nicht nur zur Nicht-Patentierbarkeit von im Wesentlichen biologischen Prozessen, sondern auch zur Nicht-Patentierbarkeit von Leben im Allgemeinen fortzusetzen, denn dies stellt eine klare Verletzung der Rechte der Bauern und Bäuerinnen und aller Bürger:innen dar. |
———————————————————————————————————
[1] Artikel 3.3) des Vorschlags der Europäischen Kommission
[2] zum Beispiel das Cartagena-Protokoll
[3] D. h. GVOs, die durch gerichtete Mutagenese und Cisgenese erhalten werden. Wir sollten uns bewusst sein, dass die Kommission diesen neuen Rechtsrahmen für Pflanzen, die mit diesen neuen Gentechniken erzeugt wurden, nur vorschlägt, um das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 25. Juli 2018 (C-528/16) zu umgehen, in dem bestätigt wurde, dass es sich tatsächlich um GVO handelt.
[4] Frankreich, Deutschland, Österreich, Griechenland, Ungarn, die Niederlande, Lettland, Litauen, Luxemburg, Bulgarien, Polen, Dänemark, Malta, Slowenien, Italien und Kroatien haben sich für ein vollständiges Verbot entschieden, ebenso wie Wallonien, die französischsprachige Region Belgiens.
[5] Zur Erinnerung: Nach EU-Recht ist es verboten, das zu patentieren, was über die Natur oder die konventionelle Züchtung entsteht. Nur biotechnologische Erfindungen, d. h. gentechnisch veränderte Pflanzen, können durch ein Patent geschützt werden.
[6] Das Europäische Patentamt hat vor kurzem eine Verpflichtung zum Haftungsausschluss eingeführt, die theoretisch Saatgut schützen soll, das durch konventionelle Züchtung gewonnen wurde. Aber dieser Haftungsausschluss ist jedoch nicht wirksam, da dieser nur für das Saatgut gilt, bei dem bereits im Vorhinein festgestellt wurde, dass es nicht aus einer patentierten Erfindung stammt. Die genetische Vielfalt, die von den Bauern und Bäuerinnen selektiert und angebaut wird, ist jedoch bei weitem nicht vollständig identifiziert und erfasst: Kein Bauer veröffentlicht eine vollständige Sequenzierung seines Saatguts. Bauern oder Bäuerinnen hinterlegen in offiziellen Sammlungen auch keine Proben von jeder von ihnen verwendeten Saatgutpartie.
Im Falle einer gerichtlichen Verfolgung und Beschlagnahmung der Ernte wegen Patentverletzung können die Bauern und Bäuerinnen daher nicht beweisen, dass ihre Pflanzen nicht aus der Nutzung der patentierten Erfindung stammen.
[7] Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im ECVC-Bericht (2022), Impacts of the Commission’s Initiative to Modify the Regulation of Certain Plant GMOs on the Application of European Patent Law
[8] Food Barons (2022). Agrochemicals and seeds: https://www.etcgroup.org/files/files/01_agrochemicals.pdf