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Zum Welternährungstag: 25 Jahre Bewegung für Ernährungssouveränität! published on

Zum Welternährungstag: 25 Jahre Bewegung für Ernährungssouveränität!

25 Jahre Ernährungssouveränität

Anlässlich des internationalen Welternährungstages am 16. Oktober feiern wir heute die Bewegung für Ernährungssouveränität, die seit 25 Jahren besteht! Die internationale La Via Campesina hat dazu eine offizielle Erklärung veröffentlicht – ein Manifest für die Zukunft unseres Planeten.  

ERNÄHRUNGSSOUVERÄNITÄT, EIN MANIFEST FÜR DIE ZUKUNFT UNSERES PLANETEN

Offizielle Erklärung der La Via Campesina zum 25-jährigen Bestehen unseres gemeinsamen Kampfes für Ernährungssouveränität

Ernährungssouveränität ist eine Philosophie des Lebens. Sie bietet eine Vision für unsere gemeinsame Zukunft und definiert die Grundsätze, nach denen wir unser tägliches Leben und unser Zusammenleben mit der Umwelt gestalten und gestalten wollen. Sie ist eine Bejahung des Lebens und der Vielfalt um uns herum. Sie umfasst jedes Element unseres Kosmos: Den Himmel über unseren Köpfen, das Land unter unseren Füßen, die Luft, die wir atmen, die Wälder, die Berge, Täler, Bauernhöfe, Ozeane, Flüsse und Teiche. Sie erkennt und schützt die gegenseitige Abhängigkeit von acht Millionen Arten, die diese Heimat mit uns teilen.

Dieses kollektive Wissen haben wir von unseren Vorfahren geerbt, die 10.000 Jahre lang den Boden pflügten und durch die Gewässer wateten – seit einer Zeit, in der sich die ersten Agrargesellschaften auf der Erde zu entwickeln begannen. Ernährungssouveränität fördert Gerechtigkeit, Gleichheit, Würde, Geschwisterlichkeit und Solidarität. Ernährungssouveränität ist auch die Wissenschaft vom Leben – aufgebaut durch gelebte Realitäten über unzählige Generationen hinweg, von denen jede ihren Nachkommen etwas Neues beibrachte und neue Methoden und Techniken erfand, die mit der Natur in Einklang standen.

Als Träger*innen dieses reichen Erbes ist es unsere gemeinsame Verantwortung, es zu verteidigen und zu erhalten.

In der Erkenntnis, dass dies unsere Pflicht ist – insbesondere in den späten 90er Jahren, als Konflikte, akuter Hunger, globale Erwärmung und extreme Armut zu offensichtlich waren, um sie zu ignorieren – brachte La Via Campesina (LVC) das Prinzip der Ernährungssouveränität in die internationale Politik ein. LVC erinnerte die Welt daran, dass diese Philosophie des Lebens die Grundsätze unseres gemeinsamen Lebens bestimmen muss.

Die 80er- und 90er-Jahre waren eine Ära der ungezügelten kapitalistischen Expansion – in einem Tempo, das es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Die Städte expandierten und wuchsen auf dem Rücken von billiger, unbezahlter und unterbezahlter Arbeit. Der ländliche Raum wurde in die Vergessenheit gedrängt. Ländliche Gemeinschaften und ländliche Lebensweisen wurden von einer neuen Ideologie unter den Teppich gekehrt, die die Menschen zu bloßen Konsument*innen von Dingen und zu Objekten der Ausbeutung für den Profit machen will. Populäre Kultur und Bewusstsein standen im Bann der glitzernden Werbung, die die Menschen dazu verleitete, mehr zu kaufen. Bei all dem blieben jedoch diejenigen, die produzierten – die Arbeiterklasse in den ländlichen Gebieten, an den Küsten und in den Städten, zu denen auch die Bäuer*innen und andere Kleinproduzent*innen von Lebensmitteln gehörten – unsichtbar, während diejenigen, die es sich leisten konnten, zu konsumieren, im Mittelpunkt standen. An den Rand gedrängt, erkannten Kleinbäuer*innen und indigene Gemeinschaften weltweit die dringende Notwendigkeit einer organisierten und internationalistischen Antwort auf diese globalisierende, marktwirtschaftliche Ideologie, die von den Verteidiger*innen der kapitalistischen Weltordnung propagiert wird. Die Ernährungssouveränität wurde zu einem zentralen Prinzip dieser kollektiven Antwort.

Auf dem Welternährungsgipfel 1996 prägte La Via Campesina in einer Debatte darüber, wie wir unsere globalen Lebensmittelsysteme organisieren sollten, den Begriff der Ernährungssouveränität, um die zentrale Rolle der kleinen Lebensmittelproduzent*innen, das gesammelte Wissen von Generationen, die Autonomie und Vielfalt ländlicher und städtischer Gemeinschaften und die Solidarität zwischen den Völkern als wesentliche Komponenten für die Gestaltung der Politik im Bereich Ernährung und Landwirtschaft hervorzuheben.

Im darauffolgenden Jahrzehnt arbeiteten soziale Bewegungen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft zusammen, um den Begriff weiter zu definieren „das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. […] Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne.“ (Deklaration des weltweiten Forums für Ernährungssouveränität, Mali, Februar 2007)

 

Die Einführung von Ernährungssouveränität als kollektives Recht hat das Verständnis von Armut und Hunger in der Welt verändert.

Bis dahin, insbesondere in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, beherrschte eine enge Vorstellung von “Ernährungssicherheit” die Regierungs- und Politikführungskreise. In ihrer noblen Absicht behandelte die Ernährungssicherheit die von Hunger Betroffenen als Objekte des Mitleids und lief Gefahr, sie zu passiven Konsument*innen von anderswo produzierten Lebensmitteln zu machen. Sie erkannte zwar Nahrung als grundlegendes Menschenrecht an, verteidigte aber nicht die objektiven Bedingungen für die Nahrungsmittelproduktion. Wer produziert? Für wen? Wie? Wo? Und warum? All diese Fragen wurden nicht gestellt, und der Schwerpunkt lag eindeutig auf der bloßen “Ernährung der Menschen”. Die offensichtliche Betonung von Ernährungssicherheit der Menschen ignorierte die gefährlichen Folgen der industriellen Lebensmittelproduktion und der Massentierhaltung, die auf dem Schweiß und der Arbeit von migrantischen Arbeiter*innen beruht.

Ernährungssouveränität hingegen steht für eine radikale Neuausrichtung. Sie erkennt die Menschen und die lokalen Gemeinschaften als die wichtigsten Akteur*innen im Kampf gegen Armut und Hunger an. Sie fordert gestärkte lokale Gemeinschaften ein und verteidigt ihr Recht, zu produzieren und zu konsumieren, bevor die Überschüsse verkauft werden. Sie fordert Autonomie in der Nutzung lokaler Ressourcen, fordert Agrarreformen und kollektives Eigentum an Grund und Boden. Sie verteidigt das Recht der bäuerlichen Gemeinschaften, Saatgut zu verwenden, zu sammeln und zu tauschen. Sie setzt sich für das Recht der Menschen auf gesunde und nahrhafte Lebensmittel ein. Sie fördert agrarökologische Produktionsweisen, die die klimatischen und kulturellen Unterschiede in jeder Gemeinschaft respektieren. Sozialer Frieden, soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und solidarische Ökonomien sind wesentliche Voraussetzungen für die Verwirklichung von Ernährungssouveränität. Sie fordert eine internationale Handelsordnung, die auf Zusammenarbeit und Mitgefühl statt auf Wettbewerb und Zwang beruht. Sie fordert eine Gesellschaft, die Diskriminierung in allen Formen – sei es entlang von Kaste, Klasse, Rassismus, oder Gender – ablehnt, und fordert die Menschen auf, Patriarchat und Nationalismen zu bekämpfen. Ein Baum ist nur so stark wie seine Wurzeln. Ernährungssouveränität, die von den sozialen Bewegungen in den 90er-Jahren und später auf dem Nyéléni-Forum in Mali 2007 definiert wurde, will genau das erreichen.

 

In diesem Jahr feiern wir 25 Jahre dieses kollektiven Aufbaus.

Die Welt ist bei weitem nicht perfekt. Kapitalismus und die Ideologie der freien Marktwirtschaft dominieren weiterhin die Politik, selbst angesichts einer nie dagewesenen Ungleichheit, zunehmenden Hungers und extremer Armut. Schlimmer noch: Unter dem Deckmantel der Digitalisierung der Landwirtschaft und der Schaffung neuer Märkte für synthetische Nahrungsmittel werden neue Versuche unternommen, sich eine digitale Zukunft zu schaffen – eine Landwirtschaft ohne Bauern und Bäuerinnen, eine Fischerei ohne Fischer*innen.

Ungeachtet all dieser Herausforderungen hat die Bewegung für Ernährungssouveränität bedeutende Fortschritte gemacht.

Dank unserer gemeinsamen Kämpfe haben internationale Institutionen wie die Welternährungsorganisation FAO die zentrale Bedeutung der Ernährungssouveränität der Menschen für die internationale Politik anerkannt. Die UN-Erklärung über die Rechte von Kleinbäuer*innen und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten (UNDROP)  unterstreicht dies noch einmal in Artikel 15.4, in dem es heißt: : „Kleinbauern und andere in ländlichen Regionen arbeitende Menschen haben das Recht, ihre eigenen Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme zu bestimmen, was von vielen Staaten und Regionen als das Recht auf Ernährungssouveränität anerkannt wird. Dazu gehören das Recht auf Mitwirkung an Entscheidungsprozessen in der Ernährungs- und Agrarpolitik und das Recht auf gesunde und angemessene Nahrung, die mit Hilfe umweltschonender und nachhaltiger Methoden unter Achtung ihrer Kulturen erzeugt wird.“

Einige Länder haben Ernährungssouveränität auch in ihren Verfassungen verankert. Die durch die COVID-19-Pandemie verursachten Unterbrechungen der industriellen Warenketten haben den nationalen Regierungen erneut vor Augen geführt, wie wichtig es ist, eine robuste lokale Wirtschaft zu schaffen.

Bäuerliche Agrarökologie, die für die Gewährleistung von Ernährungssouveränität in unseren Territorien von grundlegender Bedeutung ist, wird jetzt von der FAO als zentraler Faktor für unseren Kampf gegen die globale Erwärmung anerkannt. Derzeitige und frühere Sonderberichterstatter*innen der Vereinten Nationen haben die Ernährungssouveränität als eine einfache, aber wirkungsvolle Idee bestätigt, die das globale Ernährungssystem zugunsten von Kleinproduzent*innen verändern kann. Anhaltende Kampagnen sozialer Bewegungen haben auch zu mehreren juristischen Siegen gegen Konzerne geführt, die Pestizide, Agrarchemie und transgenes Saatgut herstellen.

Doch der Weg, der vor uns liegt, ist weiterhin mit vielen Hindernissen gepflastert.

Die Verfechter*innen der kapitalistischen Weltordnung haben erkannt, dass die Idee der Ernährungssouveränität ihren finanziellen Interessen zuwiderläuft. Sie bevorzugen eine Welt der Monokulturen und homogenen Geschmäcker, in der Lebensmittel in Massenproduktion mit billigen Arbeitskräften in weit entfernten Fabriken hergestellt werden können, ohne Rücksicht auf die ökologischen, menschlichen und sozialen Auswirkungen. Sie ziehen Skalen- und Größenvorteile einer robusten lokalen Wirtschaft vor. Sie bevorzugen einen globalen freien Markt (basierend auf Spekulation und Verdrängungswettbewerb) gegenüber einer solidarischen Wirtschaft, welche robustere lokale Märkte und eine aktive Beteiligung der lokalen Lebensmittelproduzent*innen erfordert. Sie bevorzugen Banken und ihre Macht über Land und Bedingungen in denen die industrielle Vertragslandwirtschaft die Kleinbäuer*innen ersetzt. Sie behandeln unsere Böden mit Agrarchemie, um kurzfristig bessere Erträge zu erzielen, und ignorieren dabei die irreversiblen Schäden an der Bodengesundheit. Ihre industriellen Fischerboote werden wieder die Meere und Flüsse durchkreuzen und Fische für den Weltmarkt fangen, während die Küstengemeinden hungern. Sie werden weiterhin versuchen, sich durch Patente und Saatgutverträge das Saatgut der einheimischen Bäuer*innen unter den Nagel zu reißen. Ihre Handelsabkommen werden wieder darauf abzielen, Zölle auszuhebeln, die unsere lokale Wirtschaft schützen.

Die Abwanderung arbeitsloser Jugendlicher, die die Bauernhöfe in den Dörfern verlassen und sich für Lohnarbeit in den Städten entscheiden, passt perfekt zu ihrem Drang, regelmäßig billige Arbeitskräfte zu finden. Ihr unablässiges Streben nach Gewinnspannen bedeutet, dass sie alle Mittel und Wege finden werden, um die Ab-Hof-Preise zu drücken, während sie die Produkte zu höheren Preisen in den Supermärkten verkaufen. Am Ende sind die Verlierer die Menschen – sowohl die Erzeuger*innen als auch die Verbraucher*innen. Und diejenigen, die sich wehren, werden kriminalisiert. Die Macht globaler Finanzeliten und immer autoritärerer Regierungen führt auch zu oft dazu, dass Institutionen auf nationaler und globaler Ebene, die Menschenrechtsverletzungen überwachen und unterbinden sollten, wegschauen. Milliardäre nutzen ihre philanthropischen Stiftungen zu oft, um Agenturen zu finanzieren, die “Forschungsberichte” und “wissenschaftliche Journale” herausgeben, um agrarindustrielle, unternehmerische Visionen für globale Nahrungsmittelsysteme zu legitimieren. In viel zu vielen politischen Räumen, in denen soziale Bewegungen und Mitglieder der Zivilgesellschaft hart dafür gekämpft haben, einen Platz am Tisch zu bekommen, wird Unternehmenskonglomeraten zu oft Platz gemacht. Es wird weiterhin zu oft versucht, diejenigen von uns, die die Ernährungssouveränität verteidigen, als unwissenschaftlich, primitiv, unpraktisch und idealistisch zu verhöhnen. All dies wird weiter geschehen, so wie es auch in den letzten zwei Jahrzehnten geschehen ist.

Das alles ist nicht neu für uns. Diejenigen, die durch ein grausames und unersättliches kapitalistisches System an den Rand unserer Gesellschaften gedrängt wurden, haben keine andere Wahl, als sich zu wehren. Wir müssen Widerstand leisten und zeigen, dass wir existieren. Es geht nicht nur um unser Überleben, sondern auch um künftige Generationen und eine Lebensweise, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es geht um die Zukunft der Menschheit, wenn wir unsere Ernährungssouveränität verteidigen.

Dies ist nur möglich, wenn wir darauf bestehen, dass jeder lokale, nationale oder globale politische Vorschlag zu Ernährung und Landwirtschaft auf den Prinzipien der Ernährungssouveränität aufbauen muss. Die jungen Bäuerinnen und Bauern und Arbeiter*innen unserer weltweiten Bewegung müssen diesen Kampf anführen. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir unserer Stimme nur dann Gehör verschaffen können, wenn wir uns zusammenschließen und neue Allianzen innerhalb und über alle Grenzen hinweg bilden. Ländliche und städtische soziale Bewegungen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Akteur*innen, fortschrittliche Regierungen, Wissenschaftler*innen und Technologiebegeisterte müssen sich zusammenschließen, um diese Vision für unsere Zukunft zu verteidigen. Bäuerinnen und andere Minderheiten, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt werden, müssen in der Führung unserer Bewegung auf allen Ebenen einen gleichberechtigten Platz finden. Wir müssen die Saat der Solidarität in unseren Gemeinschaften säen und alle Formen der Diskriminierung bekämpfen, die die ländlichen Gesellschaften gespalten halten.

Ernährungssouveränität ist ein Manifest für die Zukunft, eine feministische Vision, die die Vielfalt berücksichtigt und feiert. Es ist eine Idee, die die Menschheit eint und uns in den Dienst von Mutter Erde stellt, die uns ernährt und für uns sorgt.

Zu ihrer Verteidigung stehen wir vereint. Globalisieren wir den Kampf, globalisieren wir die Hoffnung!

#NoFutureWithoutFoodSovereignty

La Via Campesina 13. Oktober 2021

 

übersetzt von Lisa Francesca Rail, ÖBV – Via Campesina Austria