Skip to content
Wie arbeiten eigentlich Bakterien? published on

Wie arbeiten eigentlich Bakterien?

von Matthäus Rest

Die neue Zeitschrift Nr. 359 ist da! Schwerpunkt ist diesmal: “Arbeit: Selbstbestimmt? Fremdbestimmt?”. Hier veröffentlichen wir vorab einen Artikel – und freuen uns über Abos!

In ihrem Buch über Käse in den USA hat Heather Paxson die Käserin Maria Trumpler interviewt. Die sagt: „Es sind die Bakterien, die die ganze Arbeit machen. Sie machen den Geschmack und die Konsistenz. Alles was wir machen müssen ist, ihnen nicht in die Quere kommen.“[1] Aber ist das wirklich so? Und was bedeutet das, wenn Bäuer*innen ihre Käsereikulturen als Armee winziger Industrierarbeiter*innen deuten?

Fast verschämt sagt Anna: „Ich käse momentan nur mit Direktstarter. Wäre schon schön, eine eigene Kultur zu machen, aber das würde mich jeden Tag eine Stunde kosten. Und wenn ich es mir aussuchen kann, verbringe ich diese Stunde lieber mit meinen Kindern.” Direktstarter sind gefriergetrocknete Käsekulturen, die ähnlich wie Trockenhefe funktionieren und minimalen Arbeitsaufwand bedeuten: Einfach in lauwarme Milch einrühren, eine halbe Stunde vorreifen lassen und schon kannst du damit käsen. Sie kommen von einer Handvoll global operierenden Produzenten von Käsereikulturen, die seit Jahrzehnten die Milchindustrie beliefern. Das bedeutet, dass diese Kulturen vor allem berechenbar sind: Sie bestehen aus einer kleinen Anzahl von Stämmen, die oft genau an das gewünschte Endprodukt angepasst sind.

Fettsirte

Andreas macht seinen Käse anders. Auf seiner Alm nimmt er jeden Tag ein paar Liter Molke aus dem Käsekessel bevor er den Käse auszieht und stellt sie beiseite. Sobald der Käse auf der Presse liegt, wärmt er die Molke im heißen Wasserbad auf knapp über 60°C auf, um sie gleich danach im kalten Wasserbad auf etwa 42°C herunter zu kühlen. So stellt er die Molke dann mit heißem Wasser in seinen Brutkasten. Am nächsten Tag in der Früh ist aus der frischen Süßmolke saure Käsekultur geworden. Das Aufheizen zwischendurch soll unerwünschte Keime zurückdrängen, die bei jeder Rohmilchproduktion mit dabei sind. Außerdem bevorzugt diese Wärmebehandlung auch bei den gewünschten Milchsäurebakterien die wärmeliebenden. Weil Andreas Hartkäse macht, der hohe Temperaturen braucht, selektiert er diese so auch positiv aus. Als diese Form der Kulturherstellung im frühen 20. Jahrhundert in der Schweiz erfunden wurde, war sie eine revolutionäre Neuerung, die die Käsequalität um vieles stabiler machte. Trotzdem bleibt die sogenannte Fettsirtenkultur Handarbeit: Wie alle wissen, die schon mit Sauerteig gearbeitet haben, geht es auch bei der Molke manchmal schief. Davon kann auch Andreas viel erzählen. „In den ersten Almsommern war es immer das gleiche: Nach zehn Tagen ist mir immer die Kultur abgestürzt. Zuerst habe ich gedacht, das ist mein Fehler, aber dann habe ich in die Aufzeichnungen von meinen Vorgängern geschaut – genau das gleiche Problem.” Mittlerweile hat er eine Methode gefunden, die funktioniert. Woran es liegt hat ihm bisher niemand erklären können, aber seine Vermutung, wonach es mit dem Fett im Futter zusammenhängt, die nach der ersten Almwoche rapide abnimmt, erscheint mir plausibel.

Coli- und Kuli-Bakterien

Eine Woche zuvor war ich zufällig in Katharinas und Theresas Alpsennerei zu Besuch. Sie waren den Tränen nahe: Es hatte ihnen den Käse gebläht. Wie oft in der Schweiz arbeiten sie auf dieser Alp mit Plastikzylindern als Formen, in die zwei Laibe übereinander passen. Darauf kommt ein 10-Kilo-Gewicht. Nun waren bei mehr als der Hälfte der Zylinder die Gewichte aus den Formen gehoben worden, weil sich der Käse auf die doppelte Höhe aufgebläht hatte. Sie lagen rund um die Formen verstreut in der Presswanne. Ich habe mir eine Schürze gesucht und angefangen, den Käse aus den Formen zu nehmen. Geblähter Käse fühlt sich an wie ein überdimensionierter Schwamm. Und als wir einen Laib aufgeschnitten haben, konnten wir uns auch davon überzeugen, dass er genau so ausschaut: Er war übersäht mit unzähligen kleinen runden Löchern. Ihre Melker*innen hatten am Vortag die Milch von der mit Antibiotika behandelten Kuh dazu gemolken. Auch verdünnt auf mehrere hundert Liter im Käsekessel reichen ein paar Liter Antibiotika-Milch, um die Milchsäurebakterien umzubringen. Über Jahrtausende haben wir Menschen sie kultiviert und domestiziert und in all der Zeit haben sie viele ihrer Abwehrmechanismen abgelegt. Coli-Bakterien dagegen tut so ein bisschen Antibiotika nicht viel. Und sobald die Milchsäurebakterien aus dem Weg geräumt sind, feiern sie fröhliche Urständ. Die Senninnen waren doppelt genervt: Erst mussten sie eine Woche kämpfen, bis der Bauer die Kuh behandelt hat, die er trotz Panaritium-Infektion auf die Alp geschickt hat und dann auch noch das.

Elisabeth habe ich auch beim Käsen geholfen, aber am meisten hat mich überrascht, was danach passiert ist. Wir waren gerade fertig als der Diesel-LKW gekommen ist und sie ist schnell um die Ecke gebogen um den Lieferschein zu unterschreiben. Als sie zurückkommt fragt sie mich mit genervter Stimme: “Brauchst an Kuli?” Als ich verwirrt nein sage, meint sie: “Sobald ich ihn angreife, nehmen sie ihn nicht mehr zurück. Ich habe schon einen ganzen Schuber voll. Bin ich giftig oder was?” Wie die angeschissenen Einweg-Handschuhe, die jede*r Besamer*in an der Stalltür fallen lässt, denke ich mir. Kugelschreiber kann man wenigstens wieder verwenden.

Biosicherheit über alles?

Alex Blanchette hat darüber auch einiges zu erzählen. Seine Forschung über die Schweinefabriken im amerikanischen mittleren Westen zeigt eindrücklich auf, wie brutal sich die industrielle Landwirtschaft in die Menschen einschreibt, die in ihr arbeiten: In ihre Körper, Familien und sozialen Beziehungen. Cesar zum Beispiel antwortet auf die Frage, ob alle seine Familienmitglieder für denselben Fleischproduzenten arbeiten: „Wir haben keine Wahl wegen der ‚Biosicherheit‘”[2]. Er erzählt, dass seine ganze Familie für eine Schweinefleischfabrik gearbeitet hatte, bis sein Vater das Angebot einer Vorarbeiterposition bei einem Konkurrenzunternehmen bekam. Als das Management der ersten Farm von diesem Angebot erfuhr, verlangten sie, dass Cesar und seine Geschwister bei ihrem Vater ausziehen. Andernfalls müssten sie sich woanders Arbeit suchen. „Die Manager von Dover Foods waren besorgt, dass mikroskopische Partikel von Schweinespeichel, -blut, -fäkalien, -samen oder Stallbakterien von einer anderen Firma, oder einem anderen Stadium in ihrem eigenen Fleischproduktionsprozess, in den Ohren, Fingernägeln oder Nasenlöchern von Arbeiter*innen überdauern könnten, trotz verpflichtender Duschvorschriften am Arbeitsplatz”.[3]

Hier wird also der Mensch zum möglichen Übertragungsweg für tierische Krankheitserreger. Deshalb kontrolliert die amerikanische Schweinefleischindustrie ihre Arbeiter*innen so genau wie ihre Muttersauen. Und so kommt Blanchette auch zu dem überraschenden Schluss, dass industrielle Schweineproduktion die typische Spezies-Hierarchie umkehrt: Indem sie Menschen in “Schweine-Welten” einsperrt, stehen die Schweine plötzlich über den Menschen, die sie beaufsichtigen. Zumindest für die Schweinefleischfabrikant*innen. Hier ist es wichtig, dass wir uns vergegenwärtigen, wer die Menschen sind, die in der industriellen Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten arbeiten: Meistens sind das Leute mit Wurzeln in Lateinamerika, oft mit prekärem Aufenthaltstitel im Land, also Menschen, die sich gegen ihre Einordnung in ein Regime von Biosicherheit nicht mit denselben Mitteln wehren können, wie etwa die weiße Mittelschicht. Das zeigt einmal mehr auch, wie unterschiedlich die Schweineindustrie-Arbeiterin von der Schwerindustrie-Arbeiterin ist.

Diese Probleme hat Andreas nicht auf seiner Alm. Er lässt die Molke nicht einmal sauer werden, bevor er sie seinen Schweinen gibt. „Am Anfang musst du schon aufpassen, dass sie nicht zu viel Durchfall bekommen. Aber das legt sich immer nach ein paar Tagen.” Wie das geht, dass abgestillte Ferkel mit der ganzen Laktose in der Molke umgehen können, weiß er auch nicht genau. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es an den Milchsäurebakterien liegt.

Matthäus Rest ist Bauer und Sozialwissenschafter.

[1] Paxson 2013: 50, Übersetzung MR

[2] Blanchette 2015: 642, Übersetzung MR

[3] Ebd.: 643, Übersetzung MR