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Die Zukunft der Melkalmen wird im Tal entschieden published on

Die Zukunft der Melkalmen wird im Tal entschieden

Wie wirkt sich der Strukturwandel auf die Alpwirtschaft aus und welche Folgen zieht dies nach sich?

Von Markus Schermer

Ich argumentiere, dass sich zwei prinzipiell unterschiedliche Zugänge zu Landwirtschaft insgesamt abzeichnen, die sich in unterschiedlichen Bewirtschaftungsformen äußern und zu weitreichenden Folgen im Tal und auf der Alm führen.

Der Zusammenhang zwischen Strukturwandel im Tal mit der Alpwirtschaft liegt auf der Hand. Es ist eine Binsenwahrheit, dass weniger Kühe im Sommer auf der Alm zu finden sind, wenn weniger Kühe im Tal gehalten werden. Nun ist die Zahl der Milchkühe in Österreich mit 530.000 Stück seit 1996 zwar weitgehend gleichgeblieben, die Zahl der gealpten Kühe jedoch wesentlich zurückgegangen. Dies hängt damit zusammen, dass im selben Zeitraum ca. zwei Drittel der milchviehhaltenden Betriebe die Milchwirtschaft aufgegeben haben. Während 1996 noch ca. 78.000 Milchlieferanten gezählt wurden, sind es aktuell nur mehr 26.000 und Expert*innen schätzen, dass bis 2030 nur mehr 18.000 Betriebe übrig sein werden. Der rasante Strukturwandel geht in diesem Bereich also ungebremst weiter. Ausschlaggebend für die Milchviehalpung ist aber weder die Zahl der Betriebe noch die Zahl der Milchkühe alleine, sondern die gesamte Struktur der Milchwirtschaft.

Konzentration in Gunstlagen

Die Milchkühe sind über das Bundesgebiet recht ungleich verteilt. Ungefähr die Hälfte der Kühe stehen heute in Betrieben in Oberösterreich (180.000) und Niederösterreich (100.000). Sie sind also zunehmend in Gunstlagen konzentriert. So ist im Innviertel die größte Dichte an Betrieben, die mehr als 50 Milchkühe halten. In ganz Österreich hat sich die Zahl dieser Betriebe in den letzten 20 Jahren mehr als verzehnfacht. Die verbleibenden Betriebe werden also immer größer und das Milchvieh wird vermehrt in Laufställen (häufig ohne Weide) gehalten. Ein zusätzlicher Druck kommt von den Milchverarbeitern und Handelsunternehmen, die die gesteigerten gesellschaftlichen Anforderungen an das Tierwohl verwenden, um sich mit immer strengeren Richtlinien von ihren Konkurrenten abzusetzen. Generell schreiben sie Laufstallhaltung oder Anbindehaltung mit 120 Tagen Auslauf bzw. Weidegang vor. Die öffentlich wahrnehmbare Diskussion um Tierwohl reduziert sich hingegen zunehmend auf das Haltungssystem, Anbindehaltung oder Laufstallhaltung. So kündigte im Herbst 2018 ein österreichischer Diskonter an, dass Lieferant*innen seiner Biomarke ab sofort allen Tieren ganzjährig mindestens zwei Stunden täglich Auslauf gewähren müssen und zudem ab 2021 nur mehr Milch aus Laufstallhaltung angenommen werde.

Der Zwang zur Intensivierung der Flächennutzung und zu Neuinvestitionen in den Stall(um)bau wird erneut den Strukturwandel anheizen, die Milchviehhaltung aus dem Berggebiet verdrängen und die Zahl der gealpten Kühe weiter reduzieren. Der Rückgang der aufgetriebenen Kühe wird jedoch nicht durch einen vermehrten Auftrieb von Jung- und Galtvieh wettgemacht werden können. So ist die Zahl der gealpten Milchkühe von 2000 bis 2016 um ca. 12% zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum sind die GVE von aufgetriebenem Galtvieh nicht gestiegen, sondern ebenfalls um 2% zurückgegangen. Auch die Zahl der gealpten Schafe und Ziegen hat sich verringert. Die Almfläche insgesamt ist allerdings um über 40 % gesunken, wodurch sich die Besatzdichte erhöhte.

Ausnahme Tirol?

Bisher war der Rückgang der Milchlieferanten in Tirol am geringsten von allen Bundesländern. So haben zwischen 2017 und 2020 die Milchlieferanten in Tirol um 5% abgenommen, während es im österreichischen Durchschnitt 10% waren. Auch die Anzahl der Betriebe mit mehr als 50 Milchkühen ist in Tirol mit 79 relativ überschaubar. Gleichzeitig liegt Tirol mit 2.100 Almen insgesamt und 265 Melkalmen an der Spitze aller Bundesländer. Insgesamt werden 31.800 Milchkühe (das sind 56% aller Tiroler Milchkühe) auf Almen gesömmert, im österreichischen Durchschnitt sind es nur 10%. Die Auflassung der Milchviehalpung hätte also in Tirol wesentlich gravierendere Auswirkungen als in anderen Bundesländern. Die Zahlen deuten auch darauf hin, dass sich in Tirol klein- und bergbäuerliche Betriebe stärker gehalten haben als im österreichischen Durchschnitt. Viele Betriebe im Berggebiet haben eine Strategie der Diversifizierung über außerlandwirtschaftlichen Nebenerwerb, bäuerliche Vermietung und Direktvermarktung verfolgt, die im krassen Gegensatz zur Rationalisierung und Spezialisierung in den Gunstlagen steht. Offenbar konnten sie damit eine Alternative zum „Wachsen oder Weichen“ entwickeln und dem wirtschaftlichen Druck auf der Einnahmenseite zumindest teilweise begegnen. Die Forderung nach täglichem Auslauf ab sofort und zukünftig genereller Laufstallhaltung führte daher nicht nur zu Protesten der betroffenen Bergbauernbetriebe in Osttirol, sondern zu einer generellen Debatte über Tierwohl in der alpinen Milchviehhaltung. Die Bäuerinnen und Bauern reagieren dabei gespalten. Während die einen die Laufstallhaltung als modernes und einzig zukunftsfähiges System befürworten, verteidigt die andere Gruppe die traditionelle „Kombinationshaltung“ (Anbindehaltung im Winter und Weidegang bzw. Alpung während der Vegetationsperiode). Im Gegensatz zum gesamten Bundesgebiet wo bereits mehr Rinder in Laufställen (49%) als in Anbindeställen (42%) gehalten werden, befinden sich in Tirol mehr als zwei Drittel der Rinder in Kombinationshaltung. Laut einer Erhebung, die 2019 im Rahmen einer Masterarbeit unter 1.698 Tiroler Milchviehbetrieben durchgeführt wurde, sind Betriebe mit Kombinationshaltung tendenziell kleiner und befinden sich eher im hochalpinen Gebiet. Betriebe mit Laufstallhaltung sind hingegen tendenziell größer und werden häufiger im Vollerwerb geführt. Sie weisen eine intensivere Wirtschaftsweise auf und alpen ihre Milchkühe seltener.

Unterschiedliche Zugänge und ihre Auswirkungen

Insgesamt kann gesagt werden, dass entlang der beiden Haltungssysteme sich unterschiedliche Zugänge zur Landwirtschaft abzeichnen. Diese unterschiedlichen Perspektiven haben Auswirkungen auf die Bereitstellung von sogenannten Ökosystemleistungen, einer immer häufiger werdenden Grundlage für Ausgleichszahlungen an die Landwirtschaft. Ökosystemleistungen sind ein Sammelbegriff für die unterschiedlichen Beiträge, die Ökosysteme zum menschlichen Wohlbefinden liefern. Ökosysteme werden von menschlichen Aktivitäten beeinflusst und damit verändern sich auch ihre Leistungen. Die Wissenschaft teilt die Ökosystemleistungen in Versorgungsleistungen, regulierende Leistungen und kulturelle Leistungen ein. Zudem gibt es die sogenannten unterstützenden Leistungen als Basis, wie zum Beispiel die Bodenbildung oder Biodiversität. Die Versorgungsleistungen sind relativ klar Nahrung, Wasser, Rohstoffe für die weitere Produktion wie z.B. Holz als Baumaterial, Fasern für Kleidung oder Pflanzen für die Herstellung von Arzneimitteln. Zu den regulierenden Leistungen zählt unter anderem der Ausgleich zu Klimabedingungen oder der Abfluss von Oberflächenwasser, die Wasserqualität oder die Bestäubung von Obst. Schließlich gibt es noch die Gruppe der kulturellen Dienstleistungen, die sich zum Beispiel in der Erholungswirkung und der Schönheit von Landschaften äußern.

Während bei modernen spezialisierten Laufstallbetrieben die Versorgungsfunktion im Vordergrund steht, ist es bei den traditionell ausgerichteten Kombinationshaltungsbetrieben die multifunktionale Kreislaufwirtschaft. Ein Beispiel dafür ist die Düngewirtschaft. In Tiroler Ställen mit Kombinationshaltung wird zu über 90% Festmist erzeugt, in den Laufställen nur zu 55%. Intensive Güllewirtschaft bedeutet höhere Nährstoffmengen, und weist im Allgemeinen auf eine Intensivierung der Bodennutzung mit häufigeren Schnitten hin. Die Folge ist eine Veränderung der Flora und eine Verringerung der Biodiversität. Gleichzeitig mit der Intensivierung der Flächenbewirtschaftung im Tal wird die Bewirtschaftung der Alm meist extensiviert und im besten Fall nur mehr Jung- und Galtvieh gealpt. Die Behirtung wird dann auf ein Minimum reduziert und häufig durch regelmäßige Besuche vom Talbetrieb aus organisiert. Fehlendes Weidemanagement und reduzierte Almpflege führt zu unregelmäßiger Beweidung der Almflächen und zur sogenannten Legerflora: Das ist die Verunkrautung infolge von Stickstoffüberschuss rund um das Alpgebäude und die Geilstellen, da der Mist nicht mehr verteilt wird, in Verbindung mit zunehmendem Fremdaufwuchs von Büschen und Bäumen. Nach einigen Jahren übernimmt die Waldsukzession nach und nach Teile der Alm.

Zwischen Versprechen und Wirkungen

Gerade für die Bereitstellung von Ökosystemleistungen kommt aber der Melkalm auf Grund der naturnahen Bewirtschaftung eine große Bedeutung zu. So liefert sie Lebensmittel in höchster Qualität auf Grund der vielfältigen Zusammensetzung von Kräutern und Gräsern im Futter. Gleichmäßig beweidete Almflächen erhöhen das Versickern von Regenwasser und führen zu einem ausgeglichenen Abflussverhalten. Schließlich hat die Alm natürlich hinsichtlich der kulturellen Leistungen nicht nur den Erholungswert, wie er in der Tourismuswirtschaft genutzt wird zu bieten, sondern stellt auch einen wesentlichen Teil der bergbäuerlichen Kultur dar. Für Betriebe mit Kombinationshaltung stehen Weide und Alpwirtschaft im Zentrum der Betriebsorganisation. Damit eng verbunden ist die Erhaltung der traditionellen Kulturlandschaft, die ja aus diesen traditionellen Wirtschaftsweisen entstanden ist.

Die Haltungsform für Milchkühe spiegelt also auch eine bestimmte Haltung zur Landwirtschaft. Verarbeiter und Handelsunternehmen sind natürlich an kurzen Lieferwegen für möglichst viel Milch interessiert und verstärken über die Vorgaben zur Laufstallhaltung den bereits bestehenden wirtschaftlichen Druck beträchtlich. Sie beschleunigen dadurch den Strukturwandel im Tal mit negativen Konsequenzen für die Alm. Ironischerweise widerspricht dies den „Grundwerten“, die auf den Homepages versprochen werden. Dort heißt es zum Beispiel unter anderem: „Wir haben es uns zum Ziel gemacht, diese regionalen landwirtschaftlichen Strukturen und deren landschafts- und kulturprägenden Nutzen speziell im Alpenraum zu erhalten und zu fördern (…). So hat etwa die Alpung von Milchkühen in Bergbauernregionen nicht nur eine lange Tradition, sondern trägt wesentlich zum Erhalt der alpinen Kulturlandschaft bei.“[1]

Markus Schermer ist Agrar- und Regionalsoziologe und stv. Leiter des Forschungszentrums Berglandwirtschaft an der Uni Innsbruck

Literatur:

Gstrein S. (2019) Die Perspektiven der Kuhhaltung im Berggebiet in Tirol unter den Aspekten Tierwohl und Haltungsform; Masterarbeit an der Technischen Universität München und Hochschule Weihenstephan/Triesdorf.

Kirner L. (2005) Strukturwandel in der österreichischen Milchviehhaltung; Bundesanstalt für Agrarwirtschaft

Obweger A. (2018) Analyse des Rückgangs der Almauftriebszahlen in Österreich; Masterarbeit, Universität für Bodenkultur, Wien

Schönhart S. (2014) Basiswissen Alm, Ländliches Fortbildungsinstitut Österreich


Dieser Text ist zuerst in der Zeitschrift “Wege für eine Bäuerliche Zukunft” Nr. 368, 3/2021 erschienen.


[1] https://www.zurueckzumursprung.at/grundwerte/unsere-grundwerte/regionalitaet/